Thale Lind für #kkl19 „aufrichten“
Blütenmantels letzte Instanz 1
„Bitte, gehen Sie links die Treppe hinauf, Saal 16 ist in der ersten Etage“, und gab mir, mit bedauerndem Blick, meine Vorladung und Ausweis zurück. Langsam ging ich die einundzwanzig Treppenstufen hinauf und befand mich in einem schier endlosen, blank gebohnerten Gang des ehrwürdigen Gerichtsgebäudes. Auf der Höhe gegenüber Saal zwölf, kam eine elegante Gerichtsangestellte aus dem Büro mit Akten unter ihrem Arm. „Ich helfe!“, sprach sie mich freundlich an, vermutlich wegen meines zaghaft, zögerlichen Ganges. Da sie deutlich größer als ich war, schaute ich hoch: „Ja, ich suche Saal 16“.
„Saal 16?“ – dabei entglitt ihr die Freundlichkeit, die sich schlagartig in den Ausdruck des gleichgültigen Bedauerns wandelte: “Ach, … das ist da, wo vor dem alleinige Richter die unumkehrbaren Verhandlungen in letzter Instanz sind. Gehen sie weiter bis zum Ende, da ist Saal 16.“ Rasch öffnete sie und verschwand in der Tür. Ich wusste also Bescheid: Ganz am Ende, dort wo die letzte Instanz der Verhandlung stattfand.
Hatte ihr widersprüchliches reagieren mit den tausenden eingewobenen roten Blumen meines verschlissenen Mantel zu tun, dem Gehstock und dem langsam tastenden Gehen auf dem spiegelblanken Parkett des Ganges? Als ich auf dem rechteckigen Schild vor Saal 16 las, dass die Verhandlung um 10.00h begann, darunter meinen und einen ähnlichen Namen, zeigte meine Uhr 9 Uhr und 55 Minuten. Seltsam fühlte ich mich, wie unlängst. Da war es, dass der letzte Schwarm Kälte-flüchtender das Land, die Stadt in der ich lebte, verließen. Sie suchte Zuflucht, wo es sommerlich und warm. Mein ganzes Sehnen dorthin war ihnen gleich, aber hier, wo ich in letzter Instanz gerade war galt wohl mein sehnen nichts?
Ich klopfte, wartete, niemand öffnete. So drückte ich das schwere Edelholz der Tür mit nur einer Hand auf, meine andere umschloss den Gehstock. Ich ging ein paar Schritte in den klein bemessenen Saal mit hochragenden schmucklosen Wänden, nur eine davon mit allesamt seltenen Fenstern.
Sechs bräunlich gebeizte Zuhörerbänke standen frontal zu der gegenüber erhöhten Richterbank, längsseits ergänzt durch je eine Bank für Kläger und Beklagte. So also sah er aus, der älteste denkmalgeschützte Gerichtssaal der Stadt.
Ich ging auf die längsseits gestellte Bank zu, in der bereits die Anwältin saß. In Distanz von über zehn Metern saßen mein Gegenüber, daneben in schwarzem Talar ein Anwalt, sonst niemand und es wurde geschwiegen. Bis die Uhr über der Richterbank zehn Uhr und fünfzehn Minuten zeigte. Die beiden im schwarzen Talar, nickten sich zu und gingen schweigend.
Hörte ich …? Mein Gegenüber sprach, eher nuschelte: „… sind nicht, … Sie, sie sind nicht für die letzte Instanz.“
Meinte sie mich? Durch den Schatten, denn das Gesicht lag im Schatten, konnte ich nur erkennen, es war eine Frau der Gestalt nach wie ich, ohne Gehstock. Ich, ich war doch berechtigt hier zu sein! Was will die?
2
Ich war pünktlich, bin kontrolliert einmal im Omnibus und an der Gerichtspforte worden. Hatte eine gültige Fahrkarte, Ausweis und gerichtliche Vorladung. Nun ja, zugeben muss ich: mein nicht mehr ganz faltenloses Gesicht, die behandschuhten Hände, die etwas gekrümmten Schultern, der Gehstock, mein statistisch, jenseits der Sterbetabelle liegendes Alter. War es das oder die nur eben alltagstauglich bekleidete Figur, schließlich mein nicht mehr gefärbt, gestyltes Haar?
Jetzt sah ich sie, bevor ein Schattenwurf wieder verdeckte, deutlicher. Irgendwie klang ihre Stimme hörbarer anders,: „Wer sind Sie?“ – Sie fragt ja tatsächlich nach mir… Das geht aber nicht! Wir waren schließlich in einem ordentlichen Gericht und sie ist auf keinen Fall mein Richter. Nur er könnte danach fragen, aber doch nicht so Eine. Klar, der Richter würde nie nachdem, wer ich bin, fragen …oder doch? Hin und her drehte meine Hand zitternd den Gehstock. Gewahr, mitten in meinen Gedanken, geworden war ich, die leise sanfte Stimme von Gegenüber: „Warum sprechen Sie nicht?“
Nein! Noch einmal nein … warum sprechen? Schließlich wartete ich auf den Richter. Vor dem müsste ich sprechen, nicht aber jetzt, wo ich nicht einmal wusste, wer mich fragt! Stopp – vorhin, die Gerichtsbeamtin sagte: Saal 16 ist der, des Einzelrichters und nicht mehr revidierbaren letzten Instanz. Stimmt!
Mein Fall … also welche Fragen würden das altehrwürdige Gericht, der hohe Richter, daraus ableiten?
Der Ort war gefallen und ich war gefallen. Ja, ich war gefallen … tief gefallen. Das vermochte doch jeder zu erkennen. Selbst meine merkwürdigen Namen und Titel der Bankkonten machten das auch nicht wett. Haare, die inzwischen nicht mehr dem herabfallenden Gold auf der Erde glichen, Gehstock, unsicherer Gang, mein durch endlose Umordnungen abgetragener roter Blütenmantel. Alles das, jawohl, das sind die Zeichen tiefsten Falls, oder? Unbeabsichtigt dazu viel laut entglitten, waren mir die letzten zehn Worte. „Sie sind ja jemand, der spricht?“, verwunderte sich mein Gegenüber. Reflexartig presste ich die Lippen zusammen, wollte nicht sprechen, mein Herz pochte wild. – Sympathisch war ja die Frage und auch der meiner Stimme ähnliche Klang, oder?
„Sagen sie mir wie sie heißen!“, entwich es barsch aus meinem Mund. „Gegenüber …“, klang die Antwort aus dem schattigen Winkel. „Das stelle ich aber jetzt fest, das geht ja gar nicht!“, regte laut tönend ich mich auf.
„Sie können doch nicht …“ – „Doch“, kam bescheiden klingend die Antwort, „… ich bin ihr Gegenüber am gleichen Ort.“ Oh, war die von mir zurecht geordnete Welt dabei mich zu verlassen, war das die letzte Instanz?
Der aus der Tür hinter der Gerichtsbank eingetretene Richter, in schlicht weißen Talar,den ich nicht wahrgenommen beim Disput mit meinem Gegenüber, begann: „Erheben Sie sich, Angeklagte. Der Weg zur nächsten Welt ist kurz, aber lang. Mit ihren unbezahlbaren Schulden hat ihre Welt einfach keine andere Zukunft als das sie ihr Leibeigen sind.
3
Einst war Krieg, den erfuhren ihre Eltern und der Ort, sie gingen ihnen verloren. Aber sie hatten immer ein Gegenüber, seit dem ihre Mutter sie einst geboren hat. Sie meinten, indem wir alle eine gleiche Realität, die des Geldes erleben, auch ihre Zwillingsschwester, brauchen wir nur immer und immer wieder, zu leihen. Solange bis wir merken, nicht ständig die eigene Zukunft für die Gegenwart aufzubrauchen. Sie verfielen dieser Illusion. Denn dann bleibt ihnen nichts mehr, außer Leibeigen, dem Geld also ihren Schulden zu dienen, nicht Menschen. Das in ihrer Zukunft und für eine Vergangenheit die hinter der Gegenwart liegt. Die Klage ihres Gegenübers lautet: ihre unbezahlbaren Schulden, ihr Schweigen über die Spuren dieser Illusion, ist Sünde. Sie, sie haben kein Recht, die Zukunft für die Gegenwart, durch geliehenes Geld zu verbrauchen!“ –
Mein Gesicht anregungsarm rot gefleckt, wurde blass,als ich antwortete. „Das einzige Gegenüber, mit dem ich schon die Kinderwiege teilte, ist meine Zwillingsschwester. Erst kamen wir zu zwei Fremden, die folgten sich müde, es war tiefe Nacht. Als kein Krieg mehr war, wurden es immer mehr in dem Ort, der auseinander fiel. Da ging mir mein Gegenüber verloren durch die, die den Schlaf zertraten in meinem anderen versunkenen Leben. Was ich tat, ich vergaß.“ „Was taten sie, als sie die verschlissenen Erinnerungen an dem Ort vergaßen?“, fragte eindringlich der Richter. „Ich, … ich schwieg, … mein eigenes Schweigen.“ „Nein“, korrigierte er: „… Ihr eigenes Schweigen ist nicht ihr eigenes, über den Ort, der einmal ihrer beider war. Solange ihre Zwillingsschwester ist, auch sie sind eine, kommen sie nicht voneinander los.
„Aber, Herr, … für mein Schulden gilt, der bindende Faktor mit der größten Gestaltungskraft in meiner und auf der Welt ist das Geld, vermeidlich mehr, viel mehr als jede Liebe! Wir alle sind nur, mit und durch Geld. Ich werde, um dies Unbezahlbare zurückzugeben, in alle Zukunft zahlen. Das ist meine Bindung, nicht die meiner Schwester gegenüber oder …?“
Wortlos wies des Richters Hand auf meinen Platz, denn ich wieder einnahm.
Plötzlich, die mir unglaublich ähnlich sah, die Klägerin, stand vor mir, aufrecht, mit naher Distanz und schaute mich ununterbrochen an. Ich erschrak, sie zu erkennen.
Sie, meine Klägerin, die versengt von den Spuren meines Mantels, verwundet durch Abkehr von mir, mich anklagte, meines Vergessens, das doch nur wie leere Stille herabfiel auf meine vergangenen Schritte in diesem tausendfachen Blütenmantel.
In herzerweichender Stimme sagte sie: „Sie lügt, trägt doch die verschlissene Spur Erinnerns an sich, ich erkenne es. Jede der roten Blüten ihres gewobenen Mantels, ist die Spur einer Erwartung, einer einzigen Gabe, die aber ihr niemand gab, von denen, die in erdrückender Übermacht waren und an dem Ort, der uns einmal gemeinsam war. Den in gewisser Art, sind wir die, die andere in uns hineinsehen; Eltern, Schwester, Brüder, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt!
4
Diese Gabe, die sie doch nie bekam, verwechselte sie mit Geld. Sie trug es schon an sich, als wir uns trennten, in roten Blütenklecksen auf ihrem Mantel. Ihr Schweigen über die Spuren dieser Illusion vom Geld ist Sünde, es entbehrt des Sinnes der einzig aufrechterhaltenden Überlebenskraft. Dieser Sinn nennt sich Liebe, so wie sie sich in uns vergegenwärtigt.
Tränen. Plötzlich rannen sie mir über das Gesicht. Ich stand zögernd auf, unsere Blicke trafen sich. Langsam, sehr langsam legte ich meinen Mantel ab. Wir sahen zum Richter. Er sah zu uns und entschied:
„Das Urteil über sie, Angeklagte, ist: anzunehmen. Der Weg zur nächsten Welt ist kurz, aber lang ihre Illusion des Geldes. Dagegen ist frei und unabhängig jene Kraft zu leben, die die ultimative Form der Annahme ist, die sich ausdrückt in des Lebenssinnes Gegenwärtigkeit, wacher Dankbarkeit für Nah wie Fernstehende, Freunde wie Feinde. Das Urteil über sie, Klägerin, ist: ab und weiterzugeben, den eigenen Mantel.“
Unwiderruflich übergab sie mir, aus jenem Gewebe in Mustern des befreiten Sinnes, ihren Mantel. Mit Mustern beherrschender ruhiger Spuren, über das, was in mir, vielleicht auch bei anderen, als Leibeigene durch die Illusion Geld ausgelöst worden war. Ich zog ihn an, stand und blieb aufrecht.
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Thale Lind, lebt in der Nähe von Osnabrück, schreibt Kurzprosa, Essay, Lyrik und historische Erzählungen. Dabei geht es nicht darum, dass Literatur immer auserwählt oder etwas Besonders haben muss, sondern darum, dass sie ist, wie sie einmal war und irgendwann sein wird. Eben wie eine Geschichte, die uns berührt und anderswo endet, wenn sie berührt.
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