Sendband & Robinson

Sören Heim für #kkl19 „aufrichten“




Sendband & Robinson

„Ich kann dich nicht sehen!“

Er schrie es in die Dunkelheit, verzweifelt. Er, der Kapitän. Mit einem Mal so einsam, so verloren.

Er ist Abschiede gewohnt, er hat auf den mächtigen Ozeanriesen von „Good bye“ zu „Good bye“ die See gekreuzt. Kein Sturm ist ihm zu heftig, keine Woge zu gewaltig.

„Ich kann dich nicht sehen! Ich sehe dich nicht mehr!“ Wie konnte sie ihm das antun? Ach, dieser Abschied. Dieser Abschied war anders.

Das Meer trennte sie, unüberschaubar, schwarz. Die Sterne hatten ihr Antlitz verhüllt, der Mond war hinter dem Horizont versunken. Er hätte nicht gedacht, dass es je soweit kommen würde. Sein Hafen. Sein einziger sicherer Hafen.

Auf der Hollywoodschaukel saß sie und strickte. Sie trank heißen, dunkelgrünen Tee. Und sie beobachtete, versunken, ein Pärchen Pfauenaugen, das über den gelben Blüten der Osterglocken tanzte.

Wann immer er nicht auf See war, hatte sie ihn im Garten antreffen können. Darauf konnte man zählen. Bis zuletzt hatte sie darauf zählen können.

„Ja“, flüsterte sie leise bei sich. „Die Farben und die große Welt. Wie traurig, das beides verblassen muss“.

Er hatte die westindischen Inseln bereist, und Kaffee und Tabak nach Europa verschifft. Später half er reichen Touristen sich den Golf von Mexiko anzueignen, dann lotste er Tanker durch die Meerenge des Panamakanals. „Ah, die Palmen, der feine, weiße Sand“.

Das Blau des Meeres und des Himmels, das Lachen der Delfine, die den Weg des Kapitäns begleiteten. Die schillernden Seemöwen, der Albatros, majestätisch, am Firmament.

„Und in Gedanken immer bei dir. Nicht glauben wollend, dass du einmal nicht mehr da sein könntest“.

„Ach ja“, dachte sie, und der grüne Tee dampfte. „Hätte er doch nur halb so viel Zeit damit verbracht einfach bei mir zu sein, wie er damit verbrachte, mich aus der Ferne zu verehren“.

Ein langer Brief aus jedem Hafen. Ein teures Geschenk von jeder Reise.

„Wäre er doch nur nicht so rastlos gewesen“. Ich lege dir die Welt zu Füßen. Die ganze Welt. In all ihren Absonderlichkeiten und Schattierungen.

Die Pfauenaugen taumelten immer noch wild über den Narzissen. „Huch, ein Windstoß! Schmetterlinge, schon verweht“.

„Und er ist immer noch rastlos“, dachte sie. „Er nennt sich nun Robinson, gibt vor, nach innen zu schauen. Aber er zimmert schon wieder ein Floß. Er kann nicht anders“.

Die Nacht war herein gebrochen, und der Kapitän hielt auf den feuchten Planken einsam Wache.

„So treibe ich denn ohne Hoffnung ins Nirgendwo“.

Die Ratten hatten das Schiff verlassen, und auch die Matrosen. Er hatte gewusst, dass es so kommen würde. Wenn er sie nicht mehr hatte, was blieb als die Freiheit oder der Tod?

Kalt war die Nacht, unbewegt. Da. Ein Windstoß! Unvermittelt meinte der Kapitän Blütenduft in der Tiefe in seiner haarigen Nase zu ertasten. Und den Geruch ihres Tees, des starken grünen Tees. Da war auch eine Idee der Herbstsonne, der warmen, goldenen, die seine Wangen kitzelte.

Auf einmal erinnerte das Quietschen der Bohlen an ihr sanftes sich Wiegen in der Hollywoodschaukel, wenn sie träumte. Diese salzige Note, die in der Luft lag, könnte sie nicht auch das Kartoffelpüree ankündigen, dass sie ihm zu kochen pflegte? Er dachte an seinen Garten. Er fühlte fast ihren festen Blick, der sich auf seinen Hintern heftete, ihm zusehend, beim Umgraben der Beete. Der Kapitän lächelte.

Eine jäh aufwallende Euphorie ergriff von ihm Besitz. „Nein! Nein Nein!“, brüllte er in die Dunkelheit. „Ich weiß dass du da draußen bist! Ich werde dich finden, sicherlich! Und ich bringe dir die weißen Rosen, wie früher, und den duftenden flos maris  des Wales!“

Mit diesen Worten sprang der Kapitän auf, und stürzte ekstatisch in die Dunkelheit. Das wäre doch gelacht! Er würde sich nicht einfach damit abfinden, dass der Sinn seines Lebens sich in Luft auflöste. Er war der Kapitän. Er gab den Kurs vor.

Schon stolperte er. Schon fiel er. Schon lag er hilflos auf dem Rücken, und er wagte es nicht sich zu rühren. Wie nah war er dem todbringenden Nass? Wie nah daran, endgültig zu versinken?

Der Kapitän konnte die Tränen nicht halten. War er zur Einsamkeit verdammt? „Oh ihr Nereiden, oh heiliger Nikolaus“, flehte er schließlich wahllos die Patronen des Meeres an. „Lasst mich noch nicht im Stich!“

Plötzlich, unerwartet, wie aus dem Nichts umfasst eine Hand die Seine wie ein Schraubstock. Sie hebt ihn empor. „Du musst aufpassen“, sagt eine bekannte Stimme. „Und du musst endlich lernen damit zurecht zu kommen!“ 

Er konnte sich doch nicht immer tiefer in sich selbst zurückziehen. Er konnte doch nicht die Wirklichkeit ausschließen, nur weil er sie nicht sah! Wie oft hatte sie diese Predigt schon gehalten?

„Die Welt ist noch immer da draußen“.

Und Sie war noch immer da draußen. Verstand er das nicht?

War es ihm denn so unmöglich zuzugeben, dass er das Steuer abgegeben hatte? „Du musst aufhören, zur See zu fahren“, beschwor sie ihn. „Kannst du das? Höre Musik, lerne den Stock gebrauchen, sprich mit mir. In fünfzig Jahren haben wir nie miteinander gesprochen. Magst du denn nicht zumindest versuchen sesshaft zu werden?“.  

„Vielleicht“, sagte der Kapitän. „Vielleicht. Aber lass mich weiter deine Hand halten. Sonst treibe ich davon“.




Sören Heim, geboren 30.7.1984 in Mainz, wohnhaft in Bingen, studierte Englisch, Slavistik und AVL, freier Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Heim ist unter den Preisträgern des Nachwuchspreises der Internationalen Gemeinschaft deutschsprachiger Autoren, des Lyrikwettbewerbs der Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte 2013, sowie Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung Pena e Anton Pashkut (Stift des Anton Pashku), des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014, des Kunstförderpreises der Stadt Bingen 2015, Finalist des Literaturpreises Prenzlauer Berg 2018, des Pollypreises für Politische Lyrik 2017 und ’19 und Träger des Literaturpreises der Stiftung Kultur im Landkreis Mainz-Bingen 2020

Monographien:

Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.

Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.
kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.
Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.
Seiltänzer: Prosaminiaturen. Girgis Verlag: 2018 – ISBN 9783939154310.

Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

Redaktion / Herausgabe: Binger Orte und Geschichten. Girgisverlag 2016 – ISBN 978-3939154204

In Zeitschriften und Anthologien, Auswahl: Vogelzug – Bibliothek deutschsprachiger Gedichte 2006 / Mogadischu unter schwarzem Leinen – Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte 2008 / Gedichte – eXperimenta 8/12 / Guernica – eXperimenta 10/12 / Nachdichtungen aus dem Chinesischen – eXperimenta 9/13 / Landhaus, entgrenzt – Jokers Lyrikdatenbank / 3 Gedichte: Techné Melancholia u.a. – Podium Literatur 165 / Nicht Lilli Marlen – Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte 2013, vertont von Katja Amberger und Mark Kuhn / Zyklus: Ringen mit dem Monde – eXperimenta 9/14 / Vom redlichen Leben – Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte 2014 / Techné Melancholia, Zwischenzeiten – Albanische übersetzungen in Almanakh Takimet e Gjecovit 2015 / Der Blick des gefangenen Tieres – Anthologie der art.experience 2014 /

anhalten; teheran, 2009 & kursk, 2008 – Strohblumenstörung. Politische Dichtung der Gegenwart Band I. Chiliverlag 2015 / Abend am Rhein – eXperimenta 4/2015 (Lyrik-Trilogie) / Aus dem Kokon – Der Tag, an dem die Farben aus der Welt verschwanden. Hrsg. Dr. Maria Zaffarana. / 3 Gedichte und Miniatur in Prosa – Anthologie 1. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2015 / Hamburger Requiem – Kunst der Einfachheit / die götter der stadt – Der Dreischneuß Nr. 28 2016 / der blüten zweie – Neue Wege – Sperlingverlag 2016 /
wie man’s nimmt – Tierisch Gut. Anthologie des Lyrikwettbewerbs „Wachtberger Kugel 2017“ / Hexenhafte Wesen/Frauen trinken Smoothies – CD Die Novelle #5 2017 / Barstuhl – Mo(nu)mente. Sperlingverlag 2017.

Abend am Rhein – Unser Rheinhessen. Frühjahr 2017. /Zeitgeistminiaturen – Das Karussel Nr.6 – Mai 2017 & seitdem zu viele zum zählen. Das Gleiche gilt für Presseberichte, die ich hier nicht alle aufzählen möchte und kann.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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