Astrid Miglar für #kkl19 „aufrichten“
Anhimmeln
Das Kleid, das sie trug, war nicht modern, doch sie mochte es. Knielang. Grundfarbe weiß, mit unterschiedlich großen, schwarzen Tupfen übersät. Als Polka dots hatte die Verkäuferin diese Punkte bezeichnet.Sie selbst nannte es lächelnd Yayoi Kusama-Stil. Der Saum war mit einem handbreiten Rüschenabschluss verziert, noch nicht wirklich altmodisch, aber irgendwie doch grenzwertig, was weniger am Kleid, als an ihrem Alter lag. Besorgt hatte sie sich vor dem Spiegel gedreht, geprüft, ob ihre Unterwäsche unsichtbar blieb. Sie hatte sich auf einen Sessel gesetzt, beobachtet, wie sich der Saum verhielt. Ob das Kleid zu weit in Richtung Oberschenkel rutschte. Ob sie Einblicke gewährte, die sie nicht gewähren wollte. Ob sie mit diesem Kleid ein Verhalten provozieren würde, das sie nicht auslösen wollte. Oder vielleicht doch? Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu.
Schlussendlich entschied sie, dass es gut war, wie es war, und dass er vermutlich ohnehin nicht auf ihr Kleid achten würde, sondern auf ihre gebräunte Haut, auf ihre Haare, Augen oder Lippen, oder was immer ihm an ihr gefallen könnte.
Sie hielt ein Foto in der Hand. Hatte in ihren alten Alben gesucht und tatsächlich eines von ihm gefunden. Damals hatte sie ihn angehimmelt. Aus der Ferne. Am Bahnsteig. Immer waren Mädchen an seiner Seite gewesen. Eine davon, eine hübsche Blonde, hatte ihn zu ihrem Eigentum erklärt. Ihn offen umschwärmt.
Behutsam steckte sie das Foto in den Spiegelrahmen. Wann immer es ihr damals möglich gewesen war, hatte sie ihn beobachtet. Er hatte es nicht bemerkt, was ganz in Ordnung gewesen war. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie reagieren hätte sollen, wären ihre Blicke bemerkt worden.
Schließlich war der Zufall in Gestalt eines Schulfreundes zu Hilfe gekommen, der sie zu seiner Geburtstagsparty eingeladen hatte. Nicht, weil er auf sie stand, sondern einfach deswegen, weil ein Männerüberschuss auf seiner Party herrschte, was er ihr auch noch gesagt hatte. Für einen kurzen Augenblick war sie traurig gewesen nur als Notlösung zu gelten. Am Ende hatte sie zugesagt und war in den erlauchten Kreis der geladenen Gäste aufgenommen worden. In den ehrwürdigen Kreis der Idioten, wie sie bald erkannt hatte. Aber, er war auch dort gewesen. Und er war besonders.
Das übliche Flaschendrehen hatte dafür gesorgt, dass er sie küssen musste. Irgendwann landeten sie in einem dunklen Eck, knutschten, fummelten und tauschten Telefonnummern aus. Die Knutscherei hätte ruhig noch länger dauern dürfen, doch die von den Eltern auferlegte Sperrstunde läutete einen unerwünscht frühen Abgang ein.
Er meldete sich nicht.
Sie sprach ihn frei. Zahlreiche Prüfungen zum Schulschluss standen an. Da blieb kaum Platz für andere Gedanken. Diese vorgeschobene Erklärung ließ außerdem zu, dass sie nicht an sich selbst zweifeln musste. Letztlich aber, Wochen waren vergangen, traf sie eine Entscheidung, überwand sich, wischte ihren Stolz beiseite.
Sein Vater war am Apparat. Dessen tiefe Stimme schüchterte sie ein. Am Ende wusste sie nicht, ob sie eine Nachricht hinterlassen sollte, ob der streng klingende Vater ihre Nachricht überhaupt weitergeben würde.
„Ich melde mich wieder“, hatte sie dem Mann erklärt, der vermutlich kein Interesse an ihrer Ankündigung gehabt hatte. Außerdem hielt sie ihr Versprechen eines neuerlichen Anrufes nicht. Zu peinlich war ihr das wortkarg geführte Telefonat gewesen. Enttäuscht, später wütend, insgesamt aber nicht wirklich überrascht, strich sie seinen Namen aus ihrem Adressbuch.
Eine ganze Weile hatte sie noch an ihn gedacht, hatte ihn mit Blicken am Bahnsteig gesucht, nicht gefunden und geahnt, dass sie ihn einfach vergessen musste.
Viel später hatte sie erfahren, dass er einen Unfall mit dem Motorrad gehabt hatte. Sicher hatte sich irgendeine Freundin sehr um ihn gesorgt. Sie dachte an die hübsche Blonde, die sich am Bahnsteig immer in seiner Nähe aufgehalten hatte, verdrückte Tränen, schalt sich dumm und naiv, und konnte nicht verhindern, doch an ihn zu denken. Anfangs noch häufig, dann seltener. Irgendwann vergaß sie.
Nun saß er ihr gegenüber. Wieder war der Zufall im Spiel gewesen. Wieder war es derselbe alte Schulfreund, der den Kontakt – unbeabsichtigt dieses Mal – hergestellt hatte. Über Social Media, weil sie dort in seiner Freundesliste aufschien.
Sie hätte ihn nicht erkannt, wäre sie ihm irgendwo über den Weg gelaufen, dabei hieß es doch immer, dass man die erste große Liebe nie vergaß. Die pure Neugier hatte sie auf seinen Vorschlag zum Treffen positiv reagieren lassen.
„Ich habe damals nicht gewusst, was ich mit dir reden soll, du wirktest so erwachsen. Ich konnte dir nicht das Wasser reichen. Hast du nicht bemerkt, wie sehr ich dich angehimmelt habe? Und noch etwas: Dein Bruder ist ein Arschloch. Er hat mich damals am Telefon abgewimmelt. Mir gesagt, dass ich dich in Ruhe lassen soll.“
Der Klang der Weingläser, der Geschmack der Trauben und seine Stimme wischten dreißig Jahre zur Seite, und als sie sich im Sessel aufrichtete, sich ihm aufmerksam zuwandte, war sie plötzlich wieder jung.
Astrid Miglar
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