Amy Nordberg für #kkl19 „aufrichten“
Die nächste Welle
Der Sand kitzelte zwischen ihren Füßen. Sanft drückte sich der formbare Grund in die kleine Kuhle zwischen Ballen und Ferse, ein erquickendes Gefühl! Es waren nur noch wenige Meter, aber mit jedem weiteren Schritt, den sie auf die Düne setzte, dem Reiben der Muscheln an ihren Zehen, den kleinen Grasbüscheln hier und dort, die sich ihr so aussichtslos in den Weg zu stellen wagten, spürte sie, wie ihr Körper ein kleines bisschen leichter wurde. Bald würde es nur ein leichtes Prickeln sein, ein längst vergessener Schmerz, vergleichbar mit einer kleinen Schorfkruste, die man zufällig entdeckt, wenn man sich gedankenlos durch das Haar fährt, kurz innehält und versucht, das Verlangen niederzukämpfen, daran zu kratzen, sie aufzureißen, die kleine Wunde. Sie würde nicht kratzen. Über ihr keiften die Möwen. Der Wind stob ihr wie eine Wand entgegen, riss an ihren Haaren, ihrem Kleid. Aber sie würde nicht mehr anhalten. Lange Zeit war sie getapst, vorsichtig, um nicht umzuknicken, nicht zu straucheln. Sie hatte sich umgedreht, etliche Male, hatte zurückgeblickt, auf das, was hinter ihr lag. Wenn der Wind zu stark war, war sie stehengeblieben, wurde es stürmisch, hatte sie kehrtgemacht, regnete es, so blieb sie zuhause. Nur bei Sonnenschein hatte sie sich hier herausgewagt. Ein ums andere Mal war sie versucht gewesen, ihre Ärmel nach oben zu krempeln, aber die Angst vor der unnachgiebigen Kraft der Sonne hatte sie eines Besseren belehrt. Jetzt war heute. Heute war jetzt. Sie würde nicht mehr umkehren. Hart schlug ihr die Windböe ins Gesicht. Wie tausend feine Peitschen schnitt sich der trockene Sand tiefer in ihre nackte Haut. Sie würde nicht mehr umdrehen. Das Brüllen des Meeres schluckte das letzte Klagen der Möwen. Tosend hatte es sich vor ihr aufgebäumt, drohte ihr mit seiner schäumenden Wut. Keinen Schritt weiter wirst du gehen! Sie breitete die Arme aus, der Wind riss an ihrem Kleid, kreischte in ihren Ohren, zerrte an ihrem Haar. Ich werde weitergehen. Wie Blei setzte sie den nächsten Schritt in den Sand. Kalt und nass klebte er an ihrem Fuß.
Die Wahrheit ist wie Kaugummi, hatte sie gesagt. Schrecken lähmte ihre Beine, ließ sie einknicken, fallen wirst du! Eine Hand am Boden, schon versinkend im Schlick, es war die Gischt gewesen! Weiß schäumte es bereits zwischen ihren Zehen. Schreckgeweitete Augen, Wolken, wie ein Inferno. Du wirst mich nicht besiegen! Die Hand aus dem Modder, die Füße immer tiefer versinkend im nassen, unbeständigen Grund. Eiskalt kräuselte das Wasser um ihre Waden, brannte sich wie nasses Feuer in ihr Fleisch. Ein Hecheln neben ihr, unwirklich, über ihr, wie ein Tier, vor ihr, unmenschlich, mit gefletschten Zähnen watete sie weiter nach vorne, der Schwärze entgegen.
Donnernd schlug die Wucht des Meeres auf sie ein. Nur ein dumpfer Druck dort, wo vielleicht die Ohren gewesen, geschluckt alles Lärmen, alle Geräusche, jeder Ton und jegliche Melodie. Nur die Erinnerung, losgelöst von Gestalt, die Erinnerung an das Salz auf der Lippe, an die weiße Gischt, an die nächste Welle.

Amy Nordberg hat während ihrer Reise zu sich selbst mit dem Schreiben begonnen und kann seither die Finger nicht mehr davon lassen. Wohn- und Arbeitsstätte teilt sie sich zumeist einvernehmlich mit zweieinhalb Fellnasen und einem Koch.
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