Genug!

Renate Schiansky für #kkl19 „aufrichten“




Genug!

Es ist noch stockdunkel, als ihr Wecker surrt. Leise, um die Kinder nicht zu wecken, schlägt Nazia die dünne Decke zurück. Wie gerne würde sie sich noch einmal umdrehen und weiter schlafen. Doch in der Fabrik wartet die Nähmaschine, und wer nicht pünktlich ist wird gekündigt. Rasch kleidet sie sich an und huscht in die Küche, beinahe geräuschlos bereitet sie das Frühstück für die Kinder. Eine Schüssel Reis, ein paar winzige Mangostücke. Das Wasser läuft ihr im Mond zusammen, aber sie nimmt nichts von der Frucht. Die Kinder brauchen die Vitamine nötiger. Sie kaut zwei, drei Bissen Reis und gibt eine Handvoll in ihre Lunchbox.

Als sie das Haus verlässt, ist es immer noch dunkel.

Sie schlingt ihr großes buntes Kopftuch fest um sich und geht im Zickzack durch die Siedlung, vorbei an armseligen Verschlägen, von denen kaum einer die Bezeichnung Hütte verdient, und läuft dann den Hang hinunter. Der Weg geradeaus an den zwei alten Niembäumen vorbei wäre kürzer, aber sie weiß, dass dort Sabbir bei seiner alten Tante haust. Sabbir, der ständig betrunken ist und der im Suff, so sagt man, seine erste Frau erschlagen haben soll. Er hat ihr, Nazia, einen Antrag gemacht, aber sie hat ihn abgewiesen. Er hat getobt, hat sie verprügelt. Sie hat immer noch Angst vor ihm.

In der Fabrik drängen sich mit Nazia fast 900 Frauen an ihre Plätze an den Nähmaschinen. Ihre Rücken sind gebeugt, krumm vor Schmerzen; auch die Arme schmerzen, die Hände, die Finger, die 12 Stunden am Tag schwere Stoffbahnen schieben. Das Licht ist schlecht, die Augen tränen. Nazias Platz ist in Reihe 27, vom Tor weg wird gezählt. Rechts neben ihr sitzen vier, links elf Frauen in genau der gleichen gebückten Haltung an genau den gleichen Nähmaschinen. Im Mittelgang schreitet der Aufseher auf und ab. Der Lärm der Maschinen dröhnt in den Ohren, man keine keine zwei Worte mit der Nachbarin wechseln. Nur die Aufseher hört man hin und wieder brüllen. Es ist heiß in der großen Halle unter dem Blechdach. Nazia hustet. Der Staub und die schlechte Luft machen ihr zu schaffen. Die Halle hat nur winzige Fenster, durch die kaum Luft hereindringt. Durst plagt sie den ganzen Tag.

Nazia hasst die Arbeit an der Nähmaschine, hasst die Stoffe und die Fäden, die Scheren und die Applikationen, sie hasst die Aufseher und die Fabrik. Aber sie weiß, sie hat noch Glück gehabt, sie durfte bis zu ihrem 12. Geburtstag wenigstens sporadisch in die Schule gehen, sie kann lesen und auch ganz ordentlich schreiben. Doch dann ist die Mutter gestorben und Nazia plötzlich alleine verantwortlich für den Haushalt und die vier jüngeren Geschwister. Der Vater arbeitet in einer Ziegelei, aber er trinkt immer mehr und bringt immer weniger Geld nach Hause. Irgendwann bleibt er ganz fort, die Geschwister haben nie erfahren, ob er einem Unfall oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen, oder ob er einfach vor der Verantwortung geflohen ist. Jedenfalls muss Nazia Geld verdienen, und die Näherei ist der einzige Arbeitgeber für junge Frauen.

Mittlerweile arbeitet Nazia seit drei Jahren in der Fabrik. Sie ist von der Helferin zur vollwertigen Näherin aufgestiegen, aber ihr Einkommen reicht dennoch grade einmal für das Notwendigste. Gerne möchte sie ihren Geschwistern eine anständige Schulbildung ermöglichen, aber Bücher und Hefte, Stifte und Prüfungsgebühren sind teuer. Ein Vetter hat angeboten, ihren Bruder Zizan als Helfer in der Aluminiumfabrik unterzubringen, aber sie hat abgelehnt. Er ist noch ein Kind! Sie will nicht, dass er 10 Stunden jeden Tag in der staubigen, dunklen Halle sitzt, wo Aluminiumsplitter seine Augen verletzen, wo eine kleine Unachtsamkeit an der Maschine ihn einen Finger oder gar einen Arm kosten kann. Nein, er soll zur Schule gehen, er soll lernen und einmal einen guten Job haben und gutes Geld verdienen. Der Vetter hat Nazia ausgelacht, sie hat ihn hinausgeworfen, daraufhin hat er sie beschimpft und vor ihr ausgespuckt. Nazia hat für die Geschwister gekocht und sich in den Schlaf geweint.

Zwei- bis dreimal in der Woche arbeitet Nazia auch Nachtschichten. Dann schläft sie mit einigen Kolleginnen auf dem Fußboden in der Fabrik. Es ist nicht sicher für eine junge Frau, nachts alleine durch die dunklen Gassen zu gehen. Oft ist sie am nächsten Tag so müde, dass sie kaum die Augen offen halten kann. Einmal ist sie an der Nähmaschine eingeschlafen, da hat der Aufseher sie von ihrem Stuhl gezerrt und geschlagen.

Sie nähen T-Shirts für weiße Menschen in reichen weißen Ländern. Manche Shirts sind so groß, dass Nazia für sich drei daraus schneidern könnte. Oder zwei Kleider für ihre beiden Schwestern. Sie fragt sich, ob die Menschen, die solche Shirts tragen, überhaupt arbeiten, oder nur den ganzen Tag auf ihren Matten liegen und sich mit Delikatessen vollstopfen. Nazias Magen knurrt, aber bis zur Mittagspause sind es noch gut zwei Stunden. Dann kann sie, wenn sie schnell genug ist, auf das Fabriksdach klettern, ein wenig frische Luft schnappen und den kalten Reis essen, den sie mitgebracht hat. Auch eine Plastikflasche mit Wasser hat sie dabei, denn die Wasserleitung der Fabrik ist im Keller und die Pausen sind nur kurz.

Nazia muss zur Toilette, aber sie wartet, bei eine von den älteren Frauen aufsteht und nach vorne geht. Auch die Toiletten sind im Keller und die Frauen gehen nicht gerne alleine hinunter, denn an der Treppe steht Sayed, der Oberaufseher, der vor allem den Jüngeren immer wieder bis in die Waschräume folgt. Manchmal weinen die Mädchen, wenn sie sich wieder an ihre Nähmaschinen setzen. Manchmal bluten sie. Nazia denkt an ihre Schwester Rifah, die nun auch bald alt genug ist, als Helferin in der Textilfabrik zu arbeiten. Sie könnten den Lohn wirklich gut gebrauchen, und Zizan kann mit den Kleinen zur Schule gehen. Rifah ist geschickt und fleißig. Und sie ist ein sehr hübschen Mädchen. Sie würde Sayed gefallen!

Nein, flüstert Nazia und nimmt die Hände von der Nähmaschine. Nein! flüstert sie, als sie in die stumpfen, grauen Gesichter der jungen Frauen neben sich blickt. Nein! sagt sie und richtet sich auf, nein! ruft sie und springt von ihrem Stuhl, als wieder ein Mädchen schluchzend de Kellertreppe hochsteigt. Nein! schreit sie, als der Aufseher sie in den Mittelgang zerrt.

„Es ist genug!“ brüllt sie, als er mit harter Hand zuschlägt.

„Wir lassen uns nicht länger ausbeuten!“

„Wir wollen gerechten Lohn für unsere Arbeit!“

„Wir wollen menschenwürdige Arbeitsbedingungen!“

„Wir wollen Schutz vor Vergewaltigung und Erpressung!“

Ein zweiter Aufseher kommt und packt sie an den Armen.

„Wir müssen uns wehren!“ ruft Nazia und hebt die zur Faust geballte Hand. „Wir dürfen uns nicht länger alles gefallen lassen! Wir müssen aufstehen gegen Willkür und Erniedrigung!“

Die Aufseher schlagen auf sie ein, treten sie, zerren sie durch den Mittelgang.

„Steht auf!“ schreit Nazia. „Steht auf! Wehrt euch! Steht auf!“

„Du bist entlassen!“ brüllt Sayed, der Oberaufseher. „Verschwinde, und lass dich nie wieder hier blicken!“ Er reißt das Fabrikstor auf. Ein kräftiger Stoß, Nazia stolpert, stürzt vor dem Tor in den Staub. Im Fallen dreht sie sich um, erhascht noch einen Blick in die Nähhalle. Und sie sieht, wie zwei der Frauen aufstehen. Gleich darauf noch eine, und noch eine. Sie ballen die Fäuste, heben die Arme.

„Genug!“ skandieren sie. „Genug! Genug! Genug!“




Renate Schiansky

 *1959 in Wien, 2 Kinder

war 20 Jahre lang Sachbearbeiterin der Rechtsfürsorge im Jugendamt

mag außer Büchern auch noch Fotokameras, Sprachen und alte Landkarten

hat Papier und Stift immer griffbereit

lebt mit Bartagame Siegfried und Hamster Daphne in Wien

wäre am liebsten ständig auf Reisen

Finalistin zeilen.lauf  Wettbewerb 2018 und 2019 in Baden

Finalistin Ralf-Bender Krimipreises 2019

Gewinnerin des Eyelands International Short Story Contest2018

https://renateschiansky.wixsite.com/carlainthesky






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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