Sven Beck für #kkl19 „aufrichten“
Schwurbler
Auf einer schattigen Bank vor dem Völkerschlachtdenkmal blättere ich so in der Bibel herum. Ersteres besuchte ich, weil ich neu bin in Leipzig, der Zweiteren widme ich mich, weil ich Gott neulich anrief und er es tatsächlich antwortete. Da war es ja das Mindeste, dachte ich. Gerade als ich mich in eine etwas spannendere Stelle vertiefe, unterbricht mich eine Stimme in Bilderbuch-Sächsisch: „Na, das sieht man doch gern, einen, der liest!“
Ich sehe auf. Zwei Männer, Mitte fünfzig, Touristen. Mir fällt nichts ein.
„Ja, was denn?“, sagt einer: „Sind ja alle nur am Handy heute. Toll!“
„Danke.“, lächele ich und verdecke die Buchseiten, damit Gott nicht auch noch Thema wird. Sie ziehen weiter.
Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, lese ich und finde das im Gegensatz zu den Sklavenhaltungsgeboten und Keuschheitsaufrufen immerhin einen recht vernünftigen Gedanken. Ich markiere die Stelle mit einem Kugelschreiber und husche weiter den kleinen, alten Sätzen bis ans Ende der dünnen Papiere nach – bis mich schon wieder zwei Sachsen stören.
„Dürfen wir?“, fragen sie und deuten auf die Bank. Ich rutsche wortlos nach links.
„Hast du die Biere?“, fragt einer.
„Pisswarm“ sagt der andere.
Klacken, Zischen, Glucksen, Ausatmen. Um zwei Uhr mittags. Am Völkerschlachtdenkmal. Ausgerechnet. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren, klappe das Buch zu und suche nach Tabak:
„Und ihr seid gerade gewandert, oder wie?“, frage ich die Sachsen.
„Von Lindenau.“, sagt der eine stolz. Er trägt Glatze und einen Mantel, der einer Mönchskutte ähnelt. Von seiner linken Wange klafft mich eine Schnittwunde.
„Dann, Prost!“, sage ich.
Von rechts pirschen sich die zwei „Alle nur am Handy“-Männer wieder an – und schütteln, zu meiner Überraschung, meinen Gesprächspartnern und dann auch mir, freundlich die Hände: „Toi, Toi, Toi!“, sagen sie und verschwinden schon wieder auf einen großen Parkplatz, auf dem sich nun eine bunte Truppe an pfeifenden, sich unterhaltenden Menschen versammelt hat. Ich öffne meinen Mund, um zu fragen, aber der Wortanfang bleibt mir im Hals stecken: Schwarz-Weiß-Rot und kräftig schwingt einer jetzt die Flagge des deutschen Reiches. Jetzt erst fällt mir die völlig überhöhte Polizeipräsenz auf. Beamte stehen in Gruppen rundherum und ziehen sich kampfeslustig ihre Handschuhe an. Mein Sitznachbar muss meinen Blick bemerkt haben: „Flagge vom Norddeutschen Bund“, sagt er, wie beiläufig zu seinem Freund: „auch wieder da.“
„Norddeutscher Bund?“, frage ich, aggressiv ironisch.
„Man muss sich mit Geschichte auskennen“ sagt der Jüngere, dessen kurzhaarige, bärtige Erscheinung auch in meine Freundeskreise passen würde.
„Schwenken sie oft“, sagt der mit der Schnittwunde: „Hochaktuell.“
„Wollen in die Innenstadt“, sagt der Jüngere.
„Wenn sie so weit kommen.“, sagt der mit der Schnittwunde: „Ist nie gesagt in Leipzig, nie gesagt.“
„Rechte“, sage ich kopfschüttelnd.
„Kann man politisch in keine Ecke stellen.“, sagt der mit der Schnittwunde.
„Von Rechten unterwandert“ sage ich.
„Könnte man so-“, sagt der Jüngere.
„Was ist denn rechts?“, fragt der mit der Schnittwunde mit nervtötender Naivität.
„Faschisten“, sage ich: „wie Höcke.“
„Höcke.“, lächelt der Jüngere, als hätte ich einen Witz der Sorte all-time-classic erzählt.
„Die eigentlichen Faschisten sind die Antifa!“, ruft der mit der Schnittwunde, sich mit dem Finger an die Stirn tippend: „Wollen, dass man Antisemiten isst! Kannibalen sind das.“
„Menschenfeindlich.“, sagt der Jüngere.
„Hat man von der NPD jedenfalls nie erlebt.“ sagt der mit der Schnittwunde.
„Idioten“, würde ich gerne sagen, aber sage: „Die gesamte Ideologie der NPD ist menschenverachtend. Also, bitte.“
„Terroristen sind das“, sagt der mit der Schnittwunde nochmal: „Was die Rechten dagegen machen, ein, zwei Gewalttaten, das sind doch-“
„Halle, Hanau, Gießen“, fange ich an.
„Einzelfälle!“, enttarnt er mich.
„Die Linken sind gewaltbereiter.“, sagt der Jüngere.
Ich seufze: „Jedenfalls wäre ich vorsichtig, an diesem Punkt unserer Gesellschaft auf Versprechungen von schnellen Alternativlösungen reinzufallen. Die Krisen werden ja nicht weniger, da muss man die Demokratie schon-“
„Krisen“, lacht der mit der Schnittwunde: „wie der Klimawandel?“
„Ja“ sage ich.
„Naja“, sagt der Jüngere.
„Da habe ich auf Telegram gesehen“, sagt der mit der Schnittwunde: „,dass sich die CO2-Balance gar nicht geändert hat. Seit hundert Jahren!“
„Weniger Autos wären schon gut.“, sagt der Jüngere.
„Und dann holzen sie Wälder ab für Windräder!“, sagt der mit der Schnittwunde.
„Mehr Fahrradwege, grünere Straßen, grünere Gärten.“, sagt der Jüngere: „Wäre ja gut.“
„Wälder für Windräder!“, sagt der mit der Schnittwunde.
„Aber, dass sie Wälder abholzen für Windräder…“, sagt der Jüngere.
„Die Katastrophen sind jedenfalls da“ sage ich.
„Mag sein.“, sagt der Jüngere.
„Und wie soll das weiter gehen?“ frage ich.
„Ich bin ja Christ“ sagt der mit der Schnittwunde.
„Ich auch“ sage ich.
„Jesus Christus meint, wir müssen durch“, sagt er: „bevor das Reich Gottes kommt.“
Seufz. Zwei Frauen kommen vorbei und schütteln wieder allen die Hand: „Schön, dass ihr da seid, danke für die Unterstützung.“ Mir wird schlecht.
„Wir sind am Schwurbeln.“, erklärt der mit der Schnittwunde.
Die eine, rotnasig, wie eine Alkoholikerin, sagt: „Ich bin übrigens Biologin, also vom Fach und sage dir: Das ist Stuss mit dem Klimawandel.“
„Ah“, sage ich.
„Und du hast dich erholt?“, fragt der Jüngere.
„Hat sie sich verletzt?“ frage ich.
„Wurde zusammengeschlagen.“, sagt der mit der Schnittwunde: „Die nehmen keine Rücksicht, die Antifa: Frauen, Kinder, einfach drauf! Terroristen sind das.“
„Oh“, sage ich.
„Mich haben sie auch erwischt.“, sagt der mit der Schnittwunde und deutet auf die Schnittwunde: „Aber ich habe mich nicht gewehrt.“, sagt er: „Bin ja Christ.“
Immer mehr Leute sammeln sich um uns herum. Ich packe meine Bibel ein, mache den Reißverschluss zu, stehe auf und sage: „Ich muss dann mal. Schönen Tag.“
„Kritisch bleiben!“, rufen sie noch im Chor.
„Wünsche ich auch.“

Sven Beck (*31. 03. 2002, Frankfurt) schrieb journalistisch für Frankfurter Rundschau und Kurier, war 2021 Preisträger des Treffens junger Autorinnen und schreibt Kurzgeschichten. Er lebt in Leipzig.
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