„Hi! Steh auf!“, schallt es zu mir herüber. …

Bhavya Heubisch für #kkl19 „aufrichten“




„Hi! Steh auf!“, schallt es zu mir herüber.

Ich stöhne, strenge mich an. Vergebens. Meine Stängel abgeknickt, die Blätter zertreten, krümme ich mich am Boden.

Dabei hatte ich noch gestern meine goldgelben Blüten der Sonne entgegengestreckt, ihre wohltuende Wärme verspürt.

Doch dann kamen sie: die Wanderer in ihren schweren Stiefeln. Achtlos trampelten sie über mich hinweg.

An eine Gruppe erinnere ich mich mit Grauen. Aus voller Kehle sangen sie: „Das Wandern ist des Müllers Lust“. Schmetterten das Lied hinaus, traten im Takt auf den Weg. Zerstört blieb ich zurück.

„Gib nicht auf!“, ruft die Wegwarte mir wieder zu.

Sie hat gut reden. Auf dem Erdhügel am Wegesrand gedeihen ihre robusten Stängel, Wind streicht über ihre kornblumenblauen Blüten, tiefe Wurzel geben ihr Halt. Fegt ein Biker über sie hinweg, schüttelt sie sich kurz und richtet sich wieder auf. Aber ich? Meine Stängel sind zart und hohl, tragen einen milchigen Saft in sich. Unachtsame Berührungen können sie verletzen.

Ich strenge mich an, pumpe meinen Lebenssaft in die Blätter. Vorsichtig entfalten sie sich, schon schöpfe ich neue Hoffnung. Einige Knospen machen sich bereit, aufzublühen. Doch plötzlich höre ich sie: die klackernden Wanderstecken, das Plaudern und Lachen der Menschen. Ich halte den Atem an, ducke mich tief in die Erde. Werfe einen flehenden Blick hinüber zur Wegwarte.

„Vielleicht hast du Glück“, flüstert sie.

Die Wanderer kommen näher, bleiben neben mir stehen.

„Wie schön“, spricht eine Frau und deutet verzückt auf das Bergpanorama.

„Ja, die Natur schenkt uns immer wieder neue Hoffnung“, erwidert ein Mann.

„Wir müssen sorgsam mit ihr umgehen.“ Kaum ausgesprochen tritt die Frau einen Schritt zur Seite, schon ist es um mich geschehen.

„Pass doch auf!“, möchte ich ihr zurufen. Doch mein Wehklagen wird sie nicht hören.

Lachend zieht die Gruppe weiter.

Schmerz durchzuckt mich, meine Blüten haben den Versuch, sich zu entfalten, aufgegeben. Ach! Könnte ich mein Elend doch in die Welt hinausschreien.

„Es tut mir so leid“, raunt die Wegwarte.

Der Himmel überzieht sich mit dunklen Wolken, bedrohlich fegen sie über uns hinweg. In der Ferne zucken die ersten Blitze, Donner grollt. Das Unwetter rückt näher, entlädt sich über uns. Wie Labsal verspüre ich den Regenguss, der allen Staub von mir hinwegspült. Meine Blätter strecken sich, ein Stängel reckt sich erneut in die Höhe.

Tagelang dauert der Sommerregen an, lässt das Grün der Vegetation in frischem Glanz erstrahlen, hält die Wanderer fern.

Ich bündele erneut meine Kräfte, breite meine Blätter aus. Blüten, die sich zusammengefaltet auf den Boden geduckt hatten, richten sich auf.

Die ersten Sonnenstrahlen brechen hervor. Trocknen den regendurchspülten Weg, lindern meine Schmerzen.

Ich spüre die Veränderung in meinen Blüten. Spüre, wie sie sich zusammenrollen, Samen bilden, silbrige Fäden hervorbringen, sich in Pusteblumen verwandeln. Schon trägt der Wind die ersten Flugschirmchen mit sich fort.

Die Sonne hat die Wanderer wieder hervorgelockt. Doch ich habe keine Angst mehr. Der Keim für mein neues Leben ist gelegt.







Bhavya Heubisch ist als Übersetzerin, Dolmetscherin und Autorin tätig.

Ihr historischer Roman „Das süße Gift des Geldes“ über Adele Spitzeder ist im November 2020 im Volk Verlag erschienen.

Einige ihrer Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht.

Zurzeit arbeitet sie an ihrem nächsten historischen Roman.

Die Autorin ist Mitglied bei den „Mörderischen Schwestern“ und dem BVjA, dem Bundesverband junger Autorinnen und Autoren.  






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: