Laura Plum für #kkl19 „aufrichten“
Gerade Haltung
Ich öffne langsam die Augen, blinzle ein paar Mal und beginne zu husten. Aus dem Husten wird schnell ein Würgen. Mein Magen ist alles andere als bereit. Ein übler Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Nach einigen Anläufen schaffe ich es, meine Augen endlich zu öffnen. Grelles Licht zwingt mich jedoch kurz darauf meine Augen wieder zu schließen. Es ist das erste Mal, dass ich bei Bewusstsein bin, nach der Narkose. Allmählich fühle ich den Schmerz. Er lässt sich nicht lokalisieren, er umfasst meinen ganzen Körper. Ein stechender, unfassbarer Schmerz, der mich lähmt. Ich möchte am liebsten schreien, weinen und nach meiner Mama rufen.
Plötzlich rennt eine Schwester ins Zimmer, fragt, wie es mir gehe, aber vor allen Dingen betont sie mit aller Wichtigkeit, dass ich unter gar keinen Umständen meinen Oberkörper nach der OP bewegen dürfe, „die OP ist soweit gut verlaufen, der Eisenstab konnte hinten an der Wirbelsäule befestigt werden. Bald wirst du wieder aufrecht gehen können.“
Und so liege ich hier nun: Mit einem eingegipsten Oberkörper, in einem Spezialkrankenhaus für Wirbelsäulenverformungen, auch bekannt als Skoliose. 46 Grad betrug der Winkel, der aus den Verformungen meiner Wirbelsäule entstand. 46 Grad – beinah die Hälfte eines rechten Winkels. Die Skoliose führte zu einem Schulterschiefstand. Und einem Brustkorb, der vermehrt meine Lunge einquetschte. Als ob das alles noch nicht genug wäre, musste ich die letzten Jahre ein Korsett tragen. „Los, Quasimodo, versuch‘ doch den Ball ins Tor zu schießen“, hallt es in meinem Kopf, wenn ich an die Schule denke. Sobald mein Rücken gerade ist, werde ich es ihnen zeigen. Ich werde im Sportunterricht mit aufrechtem Rücken an ihnen vorbeilaufen. Im Schwimmunterricht werde ich problemlos vom Drei-Meter-Brett springen. Auf dem Pausenhof werde ich mit einem geraden Rückgrat die Kletterwand hochklettern. Der Spitzname „Quasimodo“ wird bald schon Geschichte sein.
Die nächsten Tage im Krankenhaus sind eintönig. Der Schmerz ist mein einziger Begleiter. Und manchmal leisten mir die Krankenschwestern Gesellschaft. Sie helfen mir, mich mit einem Sondermanöver von der einen Seite auf die andere zu drehen – ohne, dass ich meinen Oberkörper bewege, versteht sich. Wie eine Boulette zwischen zwei Matratzen wenden sie mich von der Rücken- in die Bauchlage. Eine Schwester hilft mir besonders oft bei dem Sondermanöver. Ich male ihr ein Bild von mir, wie ich im Sportunterricht so schnell wie ein Blitz renne. „Das wird bald Realität sein, versprochen“, zwinkert sie mir zu. Ab diesem Zeitpunkt bezeichne ich sie heimlich als Lieblingsschwester.
Kurz danach ist es soweit: Der Gipswechsel erfolgt. Statt des harten Panzers, der meinen Körper umgibt, erhalte ich einen leichten, anschmiegsamen Gips, mit dem ich sitzen kann. Ein besonderer Moment. Die Schwester, meine Lieblingsschwester, fährt mich mit dem Bett in einen großen Hörsaal des Krankenhauses. Der Chefarzt möchte diesen Augenblick, wenn ich nach der aufwendigen Operation zum ersten Mal aufrecht sitze, seinen Studentinnen und Studenten demonstrieren. Alle Augen sind auf mich gerichtet, während der Chefarzt einen Vortrag über die Operation und meine Wirbelsäulenverkrümmung hält. Ich fühle mich wie ein Tier im Zirkus. Bald wird Quasimodo ein Kunststück vorführen. Meine Aufregung steigt ins unermessliche. Ich balle die Fäuste zusammen, um meinen Kreislauf anzukurbeln.
Auf einmal ertönt das Signal – ich solle mich aufrichten und hinsetzen. Tief Luft holen. Ich probiere es. Ich spanne alle eingeschlafenen Muskeln an. Aber mir wird schwarz vor Augen. Ich schaffe es nicht. Murmeln und Flüstern im Saal. Der Blick des Chefarztes ist fordernd. Ich möchte einfach nur hier weg, rausgebracht werden und weinen. Für immer Quasimodo, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Ich blicke flehend durch den Saal. Überraschenderweise sehe ich die Krankenschwester wieder. Sie ist nicht gegangen, sondern bei mir geblieben. Sie hält die Zeichnung, wie ich im Sportunterricht renne, von mir hoch. Unsere Blicke treffen sich. Sie lächelt mir zu und ihr Gesicht verrät „du schaffst das.“ Daraufhin nehme ich all‘ meinen Mut und all´ meine Kraft zusammen – und ich sitze. Ich sitze aufrecht. Mit einem geraden Rücken.
Diese fiktive Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, der Skoliose-Operation des Polionauten Walter B.
Laura Plum, 27 Jahre alt, Wissenschaftsjournalistin aus Düsseldorf.
Über #kkl HIER