Julia Wurzenberger für #kkl19 „aufrichten“
Nachkommen
Komm.
Komm nach.
Nach mir. Nach dort.
Eine kommt. Eine geht.
Die Gehende: Lockenwickler, Bügelmaschine, Sammelsurium
Die Kommende: Zöpfe flechten, Uniabschluss, VW-Bus
Beide: Geschichtenerzählerinnen, Flötenspielerinnen, Tänzerinnen
Ist die eine noch Frau? Ist die andere schon Frau? Ins Frausein gekommen? Aus dem Frausein gegangen? Hinauf die Leiter. Hinab die Stufen. Sich recken. Nach oben strecken. Der Linie entlang. Lineage.
Schreibend kommen. Schreibend gehen.
Der Holzschreibtisch, das Briefpapier, die Bleistifte, die Schreibtischlampe. Ein beiger Stofflampenschirm auf einem Messingständer, der auf einem Kreis aus Marmor steht.
So schaut die eine wie die andere durch die Terrassentüre nach draußen auf die Bäume, die Gräser und die Blüten, wie sie kommen und blühen und abfallen und gehen.
Die Gehende schiebt den Rollstuhl unter den Holzschreibtisch. Öffnet eins der in der schmalen Lade eingeordneten Kuverts. Liest darin Liebe.
Meine große Liebe. Ich bereue es. Bereue jetzt, dass ich gegangen bin. Und hoffe, du kannst mir verzeihen. Sie fragt Aurelia, ob sie noch Bier hätten. Sie hätte gern eins. Mit Wasser verdünnt.
Die Kommende hat die JBL-Box eingeschaltet, am Handy auf Play gedrückt, Cigarettes after Sex, und setzt sich auf ihren Holzstuhl zum Schreibtisch. Sie spitzt den Bleistift und schreibt auf gelbliches Papier. Nein, es geht nicht. Es tut mir leid. Sie schaut noch einmal auf ihr Handy, die Nachrichten. Wie geht’s dir? Tut mir leid. Und Sorry, konnte mich letzte Woche nicht melden. Mag dich wirklich. Sie scrollt die Facebooktimeline runter, ein Bild taucht auf. Es sagt, wenn du nicht loskommst, schreib eine Liste. Von all den Dingen, die du nicht magst. Keine Dinge wie Rauchen, Kleidung, Beruf. Nein, wie er mit dir ist, wie er zu dir ist, oder nicht ist. Und ob du das zulassen kannst oder nicht.
Sie schreibt. Ich habe andere Vorstellungen. Ich möchte das nicht. Ich möchte Ja sagen können. Ich möchte durch die Welt tanzen, mit dir oder ohne dich. Aber tanzen. Ich tanze.
Die Gehende hat noch mit 80 getanzt. Im Seniorenheim war sie begehrte Tanzpartnerin und wurde in den Kreistänzen bewundert. Sie hat Ja gesagt. Die Kommende musste sich Ja sagen und Ja sagen, bis sie tanzen durfte. Überall auf der Welt. Jetzt tanzt sie. Jetzt geht sie. Jetzt schreibt sie. Sie schreibt mit der spitzen Bleistiftspitze auf weißes, dickes Papier. An die Gehende. Schreibt sie Danke. Für die Fantasie und das Lachen. Für die Geschichten. Für die harten Salzstangerlscheiben mit Butter.
Sie schreibt an Suzanne. Suzanne Arnold. Thanks for your circles and your going straight forward. Sie schreibt an Ivanir Hasson. You are a woman full of power of the wild oceans. Thanks for your tears. Und sie schreibt an Claudia. Du bist eine Große, Claudia. Danke für deine Räume, für deinen Zirkuswagen und die unendlichen Weidenweiten deines Gartens.
Sie schreibt Worte. Streift übers Papier. Sie tanzt. Dreht die Musik leiser.
Eine Nachricht. Es betrifft die Gehende. Gegangen.
Die Kommende tanzt weiter. Im Kreis. Immer weiter. Nach oben. Und blickt hinauf zum Himmel.
Julia Wurzenberger MA, geb. in Eberstalzell, Oberösterreich. Kindergartenpädagogin, studierte Erziehungswissenschaft in Salzburg, Auslandssemester in Spanien, lebte in UK; Ist Geschichtenerzählerin, Theaterpädagogin i. A., Lehrende und schreibt Geschichten und feministische Texte.
Interview mit Susanne Rzymbowski auf dem #kkl-Kanal, hier.
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