Julia Kohlbach für #kkl19 „aufrichten“
Aufstehen
Seit genau zwei Monaten, vier Tagen, acht Stunden und 37 Minuten liege ich in diesem Bett im Krankenhaus am Rande der Stadt. Ich bin 12 Jahre alt und das pure Leben zieht draußen vor dem Fenster an mir vorbei. Besuch erhalte ich nur selten, da meine Eltern arbeiten und es meist nur am Wochenende zu mir schaffen. Aber Langeweile kenne ich trotzdem nicht – spielen und lachen mit anderen Kindern oder das lesen der Bücher aus der Krankenhausbibliothek von rechts nach links und links nach rechts, sind ein gelungener Zeitvertreib.
Dienstag vor genauer einer Woche war ein ganz besonderer Tag, den ich wohl nicht vergessen werde – meine große Operation. Viele Stunden haben die Ärzte an meinem offenen Rücken gewerkelt und doch habe ich Angst, dass es nun noch schlimmer ist als vorher. Ich möchte einfach nur sein wie andere Kinder in meinem Alter – einmal auf den Schwebebalken stehen, einmal unbeschwert ins Schwimmbad gehen, einmal bis zum Umfallen auf einer Geburtstagsparty tanzen. Ein angeborener Rückenmarksfehler hat es mir bisher untersagt und die OP war meine letzte Chance um weiter, wie bisher, laufen zu können.
Heute ist der Tag des Aufstehens, ich werde vom Gips befreit und die Erfolge der OP werden sich zeigen. Da kommen auch schon die Ärzte – Sie nehmen die Gips-Schale von meinem Körper, halten mich an beiden Armen fest und sagen: „Mathilda, jetzt kannst du einmal aufstehen. Keine Angst wir halten dich gut fest.“Aufstehen? – Nein, dass kann ich nicht. Ich bleibe sitzen und habe Angst. Angst, dass ich mich nicht mehr aufrichten kann. Angst, nie mehr laufen zu können. Nach wenigen Minuten sagt mir jedoch eine innere Stimme „Versuch es! Steh’ auf und lern wieder zu laufen, rennen und tanzen. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir.“ Und so ist es auch – ich träume davon zum Studium in eine andere Stadt zu gehen, auf den höchsten Gipfeln der Welt zu stehen und meine Kinder auf den Armen zu tragen.
Ich versuche mich aus eigener Kraft hochzuziehen und aufzurichten, doch ich bin zu schwach. Die Ärzte helfen mir und plötzlich stehe ich auf meinen eigenen Beinen – zwar noch etwas wackelig, wie ein frisch geborenes Kälbchen, aber meine Füße tragen mich. Ich versuche langsam einen Fuß vor den anderen zu schieben und ein paar Schritte zu gehen. Das pure Glück ist mir ins Gesicht geschrieben und ich weine vor Freude. Jeden Tag werde ich nun mit den Therapeuten üben, um bald wieder Kraft zu haben und aufrecht durchs Leben gehen zu können.
Heute vierzig Jahre später, bin ich eine stolze Frau. Gehe selbstbewusst auf meinen eigenen Füßen durchs Leben, sehe immer nach vorne und niemals zurück. Und meine Wünsche – Studium, Berggipfel und Kinder – konnte ich nach und nach erfüllen.
Julia Kohlbach wurde 1995 in Thüringen geboren. Nach erfolgreichem Studium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft arbeitet sie als Bibliothekarin. Wenn sie sich nicht gerade dem Kreativen Schreiben widmet, geht sie wandern, arbeitet im Garten oder fertigt Handarbeiten an. Erste Veröffentlichungen sind in den Anthologien „Bücher, die uns bewegten“; „Liebesgrüße aus Napoli“ und „Das Rad der Zeit … ein Stück Ewigkeit“ sowie im Online-Magazin KKL zu finden.
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