Oliver Fahn für #kkl19 „aufrichten“
Ein Stück weit Menschennähe
Dachgiebel wie durchsichtige Geodreiecke. Es gibt Tage, da übersieht man alles, was die vorgeblich reale Welt abspiegelt. Heute scheint einer dieser in mich versunkenen Tage, die sich erlauben, durch Objekte hindurchsehen zu lassen. Ich schlendere in transparenter Gegenwart, als gehörten meine Beine jemand anders. Meine Arme schwingen in doppelter Frequenz, sie wollen Boden gutmachen, keine Zeit verlieren. Ich will zum Termin kommen. Pünktlich. Überpünktlich. Der Bordstein glänzt vom Nachtregen nach. Meine Sohlen klackern eine fremde, mir nicht unangenehme Melodie. Es ist der Rhythmus von Zuversicht, der in ihnen mitklingen will. Das Lied des forschen Schrittes, der sich durch meine Füße ausbringt.
Leute lächeln wieder. Ich beginne mich ihnen zu öffnen. Sollen sie mich umarmen, ich werde es mir gefallen lassen. Kamine dampfen in die Senkrechte, hinein in einen sich lichtenden Himmel. Die Sonne will auftauchen, Mondreste verdrängen, meine Stirn wärmen. Mein vollbeladener Rucksack hat das Gewicht von Stroh. Stadthäuser funkeln vor Gastfreundlichkeit. Die Verheißung, dass jeder eine Bleibe haben wird, sie gleißt über den Dächern, Spatzen rufen Wohlstandsgesänge. Morgendliche Stadt formiert sich zu neuer Ordnung. Als mich keiner sieht, drehe ich mich hurtig im Kreis. Der kleine Tanz soll nicht wie ein Triumphzug wirken. Doch nach Tagen des Wankens gehe ich endlich wieder auf solidem Terrain. Das lädt zur Feier. Hat die Erdanziehungskraft zugenommen? Ich verspüre Schwere und Leichtigkeit in verträglicher Komposition. Ich gehe unbeabsichtigt und komme trotzdem zügiger voran wie noch gestern. Steine gegen die ich atmete, hat sich meine Brust entledigt. Die Kühlschranktauglichkeit, die mein Herz vor einigen Wochen noch unter Beweis gestellt hat, ist weggeschmolzen.
Ich balle Fäuste in den Hosentaschen, keine Verkrampfung, bloß Jubel. Schmetterlinge schwingen auf breiteren Flügeln, der Himmel hängt höher, Nebel ist abgezogen, Trauerweiden recken sich in ein Blau, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Je näher ich meinem Ziel komme, desto schneller gehe ich. Ich bin geboren, um voranzuschreiten, wiedererstarkt in meiner Bewegung. Ich verjünge mich im Marsch. Meinen Oberschenkeln wachsen neue Blutgefäße. Spitzen wie Speere. Trotzdem erscheinen mir die Stäbe des Eingangstors einer Stadtvilla beinahe stumpf. Hat die jetzt gleißende Sonnen sie ihrer Zinken entwaffnet?
Leute grüßen grußlos, doch freundlicher als in tiefster Verneigung. Es ist die Art, in der sie mir begegnen, die mich auf sanfte Weise Wirklichkeit spüren lässt. Ich fühle Nähe, die keine Distanzlosigkeit braucht. Wie ein Schwamm sauge ich ihre Nettigkeiten auf, wie eine Fackel werde ich sie weiterreichen. Noch ein paar Schritte auf dem allmählich heißen Asphalt, bis ich dort eintreffe, wo ich nötig bin. Um die Ecke der nächsten Kreuzung erahne ich bereits das Haus, zu dem es mich wie am Magnetband eines imaginären Vordermanns hinzieht.
Ich brauche nicht vorwärtszugehen, ich gleite ohne Zutun voran. Die Straße weitet sich zum Ende hin, wird mir zur Lunge, die mir Atem spendet. Eine zweite Luft, die sich in meine Bronchien zwängt, ich stoße sie aus, gebe sie frei, weiß, sie kommt zurück gleich einer Brieftaube, die ausgeflogen ist. Ich recke mich, als sei der Himmel ein Deckel, den ich trotz seiner Höhe anstupsen kann. Keine hundert Meter mehr. Ich könnte sie gelähmt laufen. Wer hat mir jene Rollen unter den Füßen angebaut, dass mich kein Hindernis hemmt, wo sonst überall Barrieren den Weg zum Spießroutenlauf werden lassen?
Pappeln senden verschwenderisch Leben aus, ich sehe ihre Samen vom nun aufkeimenden Wind getrieben. Eine verträgliche Brise, die meine Kleidung streichelt, ein Fächer, der meinen Körper kämmt. Jeden zweiten Schritt zähle ich, weil ich den Takt meiner Fortbewegung würdigen will, wie es ihm zusteht. Das Baby da im Kinderwagen sieht mich an, als hätte mein Elan sein Blickfeld erweitert. Wo Experten beharren, solche Weitsicht sei in dem Alter unmöglich, will ich meiner Wahrnehmung vertrauen, nicht deren Rat. Intuition ist der Widerspruch gegen Wissenschaft. Ich pflege Rebellion. Ein mildes Aufbegehren gegen die Unterschätzung frühkindlicher Fähigkeiten. Seine Mutter dankt mir meine stumme Fürsprache. Ich sehe die Veränderung in ihrer Mimik. Es sind die Züge einer Frau slawischer Abstammung. Hohe Wangenknochen, traurig-gesenkte Augen. Ich kenne sie nicht. Ihr Mund zittert. Er will Unaussprechliches mitteilen. Lippen, denen jedes Wort Entblößung ist, beginnen zu stammeln. Ihr Mund verschwimmt mit dem Wasser ihrer Tränen, die sie plötzlich überkommen. Steht es mir zu, ihre Überwältigung mit meiner Umarmung abzufangen?
Eine fremdländische, ärmlich gekleidete Frau mit einer womöglich verfänglichen Geste willkommen heißen? Ich zeige ihr einen handgeschriebenen Zettel, frage sie, ob sie die Person kennt. Die Person, die ich abholen könne, ich sehe es auf den dritten oder vierten Blick, ist tatsächlich sie. Sie hat angefangen zu sprechen, aufgehört zu weinen, ihr Kind von der Liegefläche aufgehoben, es geküsst, sich mir andeutungsweise vor die Füße geworfen. Für sie beginnt eine bessere Zeit, der Aufbruch in eine friedlichere Epoche. Sie erklärt, sie sei mir entgegengekommen, um bei mir Quartier zu nehmen. Ein Haus kann nie klein genug sein, um Menschen aufzunehmen. Anstatt meine Hilfsbereitschaft in selbstverherrlichende Worte zu fassen, nicke ich ihr zu, schlucke, verdrücke meinerseits Tränen. Ein Leben zu dritt, ohne dass die Luft dünn wird. Im Gegenteil. Die Summe der Mensch, die sich in einem Raum zusammenrotten, vergrößert ihn, weil Leben ihn belebt.
Unser gemeinsamer Rückweg ist ein Geburtskanal, an dessen Ausgang ich ihnen ihr Zimmer weise, in dem sie Unterkunft haben werden. Seit der Trennung von meiner Frau wird erstmalig wieder Leben in die Bude kommen. Weit weg von einer Heimat, die für sie keine mehr ist, werden die beiden Neuankömmlinge eine neue finden und ich habe ihnen dazu verholfen. Mein Übermut mündet in einem erstickten Schrei, der wie meine geballten Fäuste, solange in seinem Versteck bleiben muss, bis ich mit mir allein, zeigen kann, wie arg ich mich an meiner Wohltätigkeit berausche. Ein Haus mit Wiege, von dem ich weiß, das Nestchen wird mich einige Zeit erwärmen. Ich gebe der Frau wortlos einen Schlüssel und ein Stück Heimat in der Fremde. Sie lächelt, als hätte ich ihr einen Freigang bewilligt. Dabei habe ich lediglich Menschenrechte, die ihnen zuvor entzogen wurden, rekrutiert.

Oliver Fahn wurde am 21.03.1980 in der Kreisstadt Pfaffenhofen an der Ilm im Herzen Oberbayerns geboren. Der Heilerziehungspfleger lebt dort zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Neben dem Schreiben zählt Langstreckenlauf zu seinen Leidenschaften.
Veröffentlichungen:
-Profil auf story.one (unter anderem „Schreibtisch, wann gibst du mich frei?“ und „Auf was ich warte…“)
-#kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin April 2022: „Von der Auferstehung verlorengegangener Nähe“
-Papierfresserchens MTM + Herzsprungverlag (Beitrag zu „Liebesgrüße aus Napoli“) April 2022: „Gutschein mit Folgen“
-#kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin März 2022: „Bewegter Stillstand“
-7. Bubenreuther Literaturwettbewerb Oktober 2021: „Willst du gehen und wenn ja, auf welchen Füßen?“
Interview mit Oliver Fahn HIER
Über #kkl HIER