Hans-Jürgen Kuite für #kkl19 „aufrichten“
AUFRICHTEN
Seine Augen wirkten auf mich wie zwei tiefe mit trübgrauem Wasser angefüllte Höhlen. Sein schmales Gesicht zeichnete scharf die Konturen der Kiefer- und Wangenknochen ab und es hatte den Anschein, als würde es nur von einer dünnen Hülle aus fahler Haut zusammengehalten werden.
Ich stand ein wenig verhalten im Türrahmen ob des ersten Eindrucks und trat dann ein in den nüchtern möblierten Raum, der mit einem klassischen Krankenbett, einem Nachttisch und einem Besucherstuhl ausgestattet war. An der Wand fand eine kleine Kommode aus furniertem Kiefernholz seinen Platz, auf ihr stand einsam eine leere bauchige Vase aus milchigem Glas.
Ich sah ihn an. Hat er mich bemerkt? Im ersten Moment konnte ich nicht sicher sein, doch nach meinen bewusst fröhlich intonierten Begrüßungsworten regten sich seine Gesichtszüge und ein schwaches Lächeln strich über seine spröden Lippen hinweg.
Ich rückte den Stuhl neben sein Bett und setzte mich. Sein Lächeln war verflogen und augenblicklich verspürte ich ebenfalls ein Schwinden meiner anfänglich vorhandenen Lockerheit, die eh zum größten Teil antrainiert gewesen war. Aber wie sollte ich meine Stimmung möglichst ausgewogen dosiert haben, wenn ich einem Menschen begegnen würde, von dem niemand wusste, wie lange man ihm noch begegnen kann?
Wir sprachen miteinander, vielleicht eine Viertelstunde lang, unsortiert und meist ohne jegliche Tiefe, verhindert durch eine Vielzahl an Medikamenten, die seine Fähigkeit, sich zu konzentrieren, schwächte und zudem dafür sorgte, dass er sich unvermittelt dem Drang hingeben musste, einzuschlafen. Ich nahm meinen Blick nicht von ihm, bis ich sicher war, dass es kein ewiger Schlaf sein würde, erhob mich zaghaft und schlich schwermütig zur Tür hinaus.
Es war so wie an jedem meiner bisherigen Besuchstage. Auf den Fluren, auf meinem Weg hinaus aus diesem bedrückenden Gemäuer stürzte mein Inneres in sich zusammen. Im Auto angekommen lehnte ich meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Ich benötigte einige Zeit, um die vergangene halbe Stunde mehrmals im Zeitraffer durch mein Hirn fahren zu lassen. Bis es ein wenig erträglicher wurde. Ein klein wenig erträglicher. Ich kauerte in meinem Sitz, tupfte mit einem Taschentuch meine Augen trocken und raffte mich irgendwann auf.
Das ist nicht ihre Stimme!
Bereits beim Öffnen der Zimmertür fällte ich ohne einen ersten Blickkontakt ein schnelles Urteil. Ihr deutlich vernehmbarer Willkommensgruß klang monoton und nahezu militärisch. Ein verändertes Timbre, das war es wohl. Ganz anders als jenes, das mir bekannt war, denn es fehlte gänzlich diese typische melodische Untermalung. Ich drückte die Tür ins Schloss und betrat den schmalen Durchgang, der mich am Bad vorbei zu ihrem Bett führte. Ich war gefasst, fühlte mich gut vorbereitet und erwartete keine allzu überraschenden Verhältnisse. Allerdings konnte ich nicht einschätzen, welche Auswirkungen ein komplizierter mehrstündiger Eingriff am Kopf rein optisch herbeigeführt haben mochte.
Ein auffallend großer schneeweißer Verband, eine Art Turban, der eher zweckmäßig statt kunstvoll angelegt war, drängte sich ungefragt in mein Blickfeld und hielt all das, was man nicht unbedingt sehen wollte, im Verborgenen. Ihre rechte Gesichtshälfte erschien mir ein wenig verändert, doch ich konzentrierte mich schnell auf die wesentlichen Dinge. Ihr so typischer hintergründiger Humor, der mich sofort erfasste, nachdem wir unsere Begrüßungsworte ausgetauscht hatten, erschien mir unverändert. Doch ihr ungezügeltes Lachen, wie ich es über all die Jahre gekannt und geschätzt hatte, kam mir stellenweise gedämpft vor; mir schien als würde es von einer Spur Bitterkeit begleitet werden.
Und da war noch etwas, was sich verändert hatte. Nicht immer waren wir in all den Jahren derselben Meinung gewesen, doch jene kritischen Bemerkungen, die sie stets überlegt und sachlich an mich gerichtet hatte, bereitete sie nunmehr zu einem harten Geschütz auf und feuerte sie schroff und treffsicher auf mich ab. Ich fing sie auf, diese kleinen Pfeile und versuchte erst gar nicht, mich zu verteidigen. Stattdessen blieb ich stumm und begriff nach und nach, dass Medikamente nicht nur Heil bringen, sondern auch Unheil schaffen können, während ich versuchte, meine aufkommenden Trauergefühle im Bann zu halten. Trauer um etwas, was gar nicht zur Debatte stand, was niemand, weder ein Arzt noch sie selbst mir gegenüber zuvor artikuliert hatte, was aber dennoch über uns im Raum zu schweben schien.
Wir gingen umher auf den Fluren der riesigen Klinik, vorbei an den vielen Bildern und Portraits, die in korrekt ausgeloteter Reihe an den langen Wänden aufgehängt waren und lachten auf, wenn uns das eine oder andere Bildnis amüsierte.
Eine schützende Freude, ein ablenkender Spaß.
Und irgendwann war es Zeit zu gehen. Das große Fragezeichen, das zwischen uns steckte, als wir uns zum Abschied umarmten, schmerzte empfindlich. Wir sehen uns. Selbstverständlich, was denkst du denn! Ich komme wieder, ganz sicher. Bald. Sehr bald.
Und wieder saß ich in meinem Auto und starrte vor mich hin. Ganz so wie wenige Monate zuvor. Ein wahrlich unwillkommenes Déjà-Vu. Ich schloss meine Augen und dachte an nichts. Ich öffnete sie und dachte an nichts. Auch als sich mein Wagen wie von selbst aus der Tiefgarage bewegte, dachte ich an nichts.
Die Abenddämmerung quillt langsam in mein Schlafzimmer. Ich liege auf dem Bett und betrachte die Zimmerdecke, die sich in eine große Leinwand verwandelt zu haben schien. Immer wieder und immer mehr Bilder ziehen über die weiße Fläche hinweg. Der Mann in dem schwarzen Anzug, wie er schweigend die kleine Urne in das ausgehobene Erdloch hinabgleiten lässt. Die Gruppe von Menschen, die sich an diesem Nachmittag weit draußen in dem dichten Wald im Halbkreis um die Begräbnisstätte herum versammelt hat, die Köpfe zu Boden gesenkt. Wir würden uns wiedersehen, haben wir uns noch vor kurzer Zeit zugesprochen, doch mindestens einer von uns beiden konnte es nicht ernst gemeint haben.
Wenige Monate zuvor waren an einem anderen mit Trauer erfüllten Ort zu einem großen Teil dieselben Menschen versammelt gewesen. Ebenso ein schwarz gekleideter Mann, eine Urne, die in dem Moment, als Erde und Blumen auf sie hinabfielen, in mir etwas Abschließendes ausgelöst hatte. Ich hatte neuen Mut und neue Kraft gespürt. Für ein Aufbäumen gegen den Tod und eine Aufbietung für das Leben. Im Nachhinein betrachtet ein herber Trugschluss.
Inzwischen ist es dunkel geworden und die Bilder verkeilen sich ineinander. Bilder, die die trüben Augen meines Bruders zeigen, den Kopfverband meiner Schwester, die blassen Wände zweier Krankenzimmer. Ich erhebe mich vom Bett, verlasse den Raum und gehe hinaus in den Garten. Der Himmel ist frei von Wolken und eine Unzahl von Sternen funkelt mich an, als hielten sie eine Botschaft für mich bereit. Ich atme ein paarmal tief durch, kehre um, weil es bitterkalt geworden ist, und will mich zurück ins Haus begeben. Vor meinem Spiegelbild im Fenster der Terrassentür halte ich inne, drehe mich herum und sehe noch einmal gebannt in den Nachthimmel.
Es ist an der Zeit, dass du dich aufrichtest, spricht eine Stimme klar und bestimmt. Und dieses Mal zweifle ich nicht.
Es ist die Stimme meiner Schwester.
Hans-Jürgen Kuite
geboren 1958
Lebt und arbeitet in Düsseldorf
Schreibt seit 20 Jahren
Eine Roman-Veröffentlichung
Veröffentlichung mehrerer Gedichte und Kurzgeschichten
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