Monika Schlößer für #kkl19 „aufrichten“
Lilos Bekenntnis
Fünfzig. Jetzt habe ich es schwarz auf weiß. Kann es mit mir herumtragen. Kann es auf Verlangen jedem vorzeigen, der es sehen will. Kann es auch diskret verschweigen.
Mein Grad der Behinderung beträgt Fünfzig.
Der Stoffwechsel ist gestört, Herz und Kreislauf sind in ihrer Funktion eingeschränkt. Ich bin okay. Die paar Narben …
In meinem Alter braucht man keinen Bikini mehr, kein Dekolleté und keine makellosen Beine. Schade eigentlich. Seit ich wegen einer Stoffwechselstörung nicht mehr alles essen darf, bin ich wieder rank und schlank.
Heute habe ich in einem Prospekt ein wunderschönes Kleid entdeckt. Weich fließender Stoff, der den Körper schmeichelnd umspielt. Tief dekolletiert. Der Prospekt lag unserer Tageszeitung bei, welche die traurige Nachricht über fünfundsechzig Schwerverletzte anlässlich einer Massenkarambolage verbreitete. Den sommerbunten Prospekt habe ich mit dem übrigen Altpapier entsorgt. Wie viel Unversehrtheit braucht eine Frau, um ihrem Spiegelbild wohlwollend begegnen zu können?
Fünfzig. Soll ich mich freuen? Weil ich nun Jahr für Jahr einen gewissen Geldbetrag am Finanzamt vorbei verjubeln kann? Muss ich trotzig aufbegehren? Oder darf ich einfach nur traurig sein? Mein Grad der Behinderung beträgt Fünfzig.
Ich weiß, wie es um mich steht. Muss mit meinen Kräften haushalten. Trotzdem überschätze ich mich manchmal und lande mit hängenden Flügeln auf dem Sofa. Ganz still. Versuche unauffällig aufzutanken.
Ich gebe nicht auf. Verfolge weiterhin meine Ziele. Hartnäckig. Auch mit „Fünfzig“ hat man noch Träume. Nur – die Bäume wachsen jetzt nicht mehr bis in den Himmel hinein. Sie sind gestutzt. Relativiert. Amputiert. Behinderung setzt Grenzen.
Ich muss lernen, diese Grenzen zu akzeptieren. Mich in meinen neuen Grenzen sicher zu bewegen. Mich nicht einengen zu lassen. Weder von mir selbst noch von anderen. Erst recht nicht von meiner Behinderung.
Ich muss lernen, mich nicht zu überfordern. Um nicht auf die Schnauze zu fallen. Muss mich arrangieren. Muss mich beherrschen und lernen, dass Fünfzig eine relative Größe ist.
Um die, die sich provozierend deutlich von mir abgewandt haben, tut es mir nicht leid. Sie haben vollkommen richtig erkannt, dass ich nicht mehr so leistungsfähig bin, wie ich es vor meiner Krankheit vielleicht einmal war, die Schlauberger. Es stimmt, meine Arbeitskraft ist nicht mehr hundertprozentig verfügbar.
Seit meiner Operation bin ich weniger wert. In ihren Augen. Fünfzig Prozent weniger wert? Wer ist hundertprozentig wertvoll? Wer bestimmt den Wert eines Menschen? Welches Leitbild wird bei seiner Beurteilung angesetzt? Wann hört mein Leben auf, wertvoll zu sein? Bei welchem Grad der Behinderung?
Mir reicht die echte Zuneigung derer, die mich so akzeptieren, wie ich bin – manchmal auch schwierig, schutzbedürftig, schwach, ungeduldig und reizbar.
Ich weiß, dass es vielen Menschen wesentlich schlechter geht als mir. In der Reha-Klinik habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Dieses Leid, das klaglos über die endlos langen Flure daher geschlichen kommt. Doppelamputationen – Stümpfe nur noch, wo ich Füße zum Tanzen habe. Erschöpfte Körper auf Rädern. Körper mit unendlich traurigen Augen. Grenzenlose Einsamkeit. Ich habe Beine, die mich dorthin tragen, wo die Musik spielt. Sie tragen mich auch noch bis zum nächsten Stuhl, wenn ich erschöpft bin und dringend eine Pause einlegen muss. Mein Grad der Behinderung beträgt Fünfzig.
Ich habe in leere Gesichter geschaut, die äußere Form dank bunter Kopftücher gewahrt. Die Gedanken weggefressen vom Tumor. Das Lachen aufgesetzt wie eine Maske im Karneval. Die Hoffnung vorerst begraben.
Ich habe die Verzweiflung derer miterlebt, die stundenlang vergeblich in der großen Eingangshalle gesessen und gewartet haben. Den Blick unablässig auf die Glastür gerichtet. Obwohl die Besuche der Angehörigen irgendwann ganz ausgeblieben sind. Als die Liebe endgültig erloschen war. Gestorben in dem Moment, als das Motorrad auf der Überholspur in den Wahnsinn gerast ist. Und die Lähmung das gemeinsame Leben zerstört hat.
„Ich weiß gar nicht mehr, wie es in meiner Wohnung aussieht“, hat einer von ihnen zu mir gesagt, als ich für ihn einen Kaffee besorgte. Von seinem Rollstuhl aus konnte er den Automaten nicht bedienen. „Acht Monate lang war ich nicht mehr zuhause.“ Später hat er mir erzählt, dass sein Fuß langsam dahinstirbt. „Fäulnis. Vielleicht nehmen sie ihn ganz ab.“ Dann hat er stumm dagesessen und die braune Brühe in seiner Kaffeetasse beobachtet.
Ein anderer sang leise von seiner Sehnsucht nach weichem Frauenhaar. Und von seinem Verlangen, endlich anzukommen im Reich der Schönen und Erfolgreichen.
Mein Grad der Behinderung beträgt Fünfzig. Jederzeit nach oben hin korrigierbar. Meine von Arthritis gekrümmten Finger – noch kann ich schreiben. Mit dem Computer geht das einfach. Was kommt dann? Wie lange kann ich ihn noch bedienen? Die letzte Röntgenaufnahme zeigte Veränderungen auf, die mir selbst bislang verborgen geblieben sind. Der Arzt signalisierte glaubwürdige Betroffenheit. Wie brauchbar sind die neuen Spracherkennungsprogramme? Oder sind sie sinnlos, weil mich zu diesem Zeitpunkt bereits die Vorsehung eingeholt hat und keine klaren Gedanken mehr zulässt?
Das Knie – jederzeit austauschbar, wenn die Schmerzen unerträglich werden? Die künstlichen Gelenke sind im hiesigen Krankenhaus in einer Vitrine ausgestellt. Sorgfältig beschriftet. Anschauungsmaterial. Was kommt noch alles auf mich zu?
Und mein mühsam geflicktes Herz? Hält es noch eine Weile durch? Hält die Pumpe mich am Leben? Ist sie meinen Anforderungen gewachsen? Und wenn ich nun doch wieder einen Schlaganfall …? Meine Familie, die mich immer wieder auffängt – wie viel Stress und Sorge kann ich meiner Familie eigentlich zumuten? Wie belastbar ist eine Beziehung?
Falls ich mir auf dem überlasteten Arbeitsmarkt eine neue Beschäftigung suchen muss – ist meine Bewerbung dann willkommen? Mein Grad der Behinderung beträgt Fünfzig. Das muss im Bewerbungsschreiben mitgeteilt werden.
Fünfzig. Ich kann es akzeptieren. Gestern habe ich die Rose hinter unserem Haus zurückgeschnitten, damit sie im Sommer wieder kräftig blüht. Ich habe es geschafft. Habe den Wildwuchs und die Krankheit besiegt. Ich lebe.
Mein Grad der Behinderung beträgt Fünfzig. Ich kann damit leben. Trotz allem.
Monika Schlößer
Geboren 1949, lebt in Bad Münstereifel, verheiratet, 2 Töchter. knapp 80 Veröffentlichungen von Lyrik, Kurzkrimis und Kurzprosa in zahlreichen Anthologien, Kalendern, Jahrbüchern, Zeitschriften, Schaufenstern, im Internet, einem Podcast und auf einer Lyriksäule.
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