Sima B. Moussavian für #kkl20 „bedingungslos“
GEORDNETES CHAOS
Ein romantisch wirkender Ornamentrahmen um ein schwarz-weißes Foto, denn in Schwarz-Weiß sieht alles besser aus und sie würde darauf lächeln, wie sie es nur selten für eine Kamera tat. So hat sich Lina die Einladungen für ihre Beerdigung vorgestellt, seit sie 20 war. Sie sehen völlig anders aus. Mit einer davon in der Hand frage ich mich gerade, ob sie jemals jemandem außer mir erzählt hat, wie sie sich die Karten vorgestellt hat. Vielleicht wussten die anderen einfach nichts davon, oder sie hatten kein Schwarz-Weiß-Foto von ihr, oder überhaupt keins, auf dem sie lächelt. Vielleicht waren ihnen ihre Wünsche aber auch egal. Sie würde es hassen. Vor allem die Farben: grauenvoll gesättigt und naturgetreu, was für eine Tote keinen Sinn ergibt, würde sie sagen.
Da hinten ist ihre Mutter. Von der anderen Seite des Zimmers aus wirft sie mir böse Blicke zu. Ich glaube, sie weiß, dass ich statt ihr in der ersten Reihe sitzen sollte und sie hier hinten, versteckt in einer Ecke, wie eine lose Bekanntschaft, die kaum etwas mit Lina zu tun hatte. Ich wette, sie ist nur eifersüchtig. Neidisch darauf, wie nahe ich ihrer Tochter bis zu ihrem Todestag stand, während sie keine Ahnung hatte, wer Lina war. Genau wie alle anderen, die jetzt weinend hier sitzen.
Ob sie wohl wissen, dass Lina jeden Tag um fünf Uhr Morgens aufgestanden ist, auch an Tagen, an denen sie nicht musste? Oder dass sie sich jeden Morgen an ihrem ersten Schluck Kaffee die Zunge verbrannt hat, weil sie ihn stets schneller trank, als die Milch ihn kühlen konnte? Dann fluchte sie normalerweise vor sich hin und versuchte, die Tasse auf die Terrasse zu tragen, aber bevor sie den Garten erreichte, hatte sie meistens schon ausgetrunken, kehrte in die Küche zurück und schüttelte den Kopf darüber, dass ihr die eigene Ungeduld das Leben verkomplizierte. Niemand in dieser Kirche weiss davon, da bin ich sicher. Ebenso wenig wissen sie, welche Wege Lina jeden Tag nach Hause nahm. Unbefahrene Straßen, auf denen der alte Asphalt kaum noch zusammenhielt und sie hat sie nur deshalb gewählt, weil sie es hasste, Menschen zu begegnen. Niemand weiss davon. Sie wissen überhaupt nichts.
Warum sie wohl weiße Rosen für ihren Sarg gekauft haben? Oder irgendwelche Blumen? Lina wäre wütend und das zu Recht, denn es beweist nur, wie wenig man sie kannte. Die weißen Lilien, die ich ihr vor zwei Wochen gekauft habe, hat sie gegen die Wand geworfen, weisse Blüten überall, und wenn ich mutig genug wäre, würde ich mich jetzt aus meiner Ecke schleichen, um zu ihrem Sarg hinüber zu gehen und das Gleiche mit den Rosen zu tun, weil ich weiß, dass sie es so wollen würde.
Ihr Bruder hält gerade eine Rede. Warum wohl, frage ich mich? Sie mochten sich nicht einmal und wenn er sie spät abends angerufen hat, nahm sie niemals ab. Was hat er wohl über ihren Tod zu sagen, wenn er sie im Leben schon nicht zu schätzen wusste? Jetzt lässt er es so klingen, als wäre sie ein netter Mensch gewesen, der weinte, wann immer Werbung für Hundefutter lief. Was er sich bloß dabei denkt? Lina war nicht nett. Nett sein kann jeder. Sie war Lina: verkorkst, düster, manchmal sogar gewalttätig, die verkrusteten Narben auf meinem Arm sind der Beweis. Eine Naturkatastrophe ist sie gewesen und stets voller Ehrfurcht für das Chaos, das sie verursachte. Ich habe sie immer dafür bewundert.
Ich frage mich, ob ich den heutigen Tag überstehen werde, ohne jemanden anzuschnauzen. Diese furchtbar schick gekleidete, kettenrauchende Dame auf dem Hof: Sie war die erste, mit der ich mich heute fast angelegt hätte und sie wird nicht die letzte sein. Sie hat so getan, als würde sie weinen, obwohl ihr keine Tränen kamen. Verstehen die Leute keine nonverbalen Signale mehr? Ich habe Blickkontakt vermieden, weil ich nicht mit ihr reden wollte, aber sie hat sich mir aufgezwungen.
„Traurig, was für eine gestörte junge Frau sie war, nicht? Sicher eine von den Guten, aber das sind leider Gottes immer die mit den meisten Problemen. Sie hätte so viel mehr verdient!“
Kannst du bitte einfach die Klappe halten? Tu nicht so, als wüsstest du, was Lina verdient und gewollt hat. Lina hat genau das bekommen, was sie wollte! Und gestört? Das ist sie nicht gewesen! Das sagt man nur über Leute, die man nicht versteht.
„Woher kanntest du sie?“ haben sie mich heute schon tausend Mal gefragt, aber ich kann es ihnen nicht sagen, und wenn ich es täte, würden sie es nicht verstehen. Sie würden uns nur verurteilen, mich und sie, für die Dinge, die uns verbunden haben. Genau wie sie Lina bei ihrer eigenen Beerdigung wegen der Art und Weise verurteilen, wie sie zu Tode kam. Keine Sorge, Lina, ich bin nicht wie die anderen. Wer wäre ich wohl, über Dich zu urteilen? Du kennst mich, ich bin anders. Ich schätze, deshalb hast du mir überhaupt erst vertraut.
Was macht ihr Vater plötzlich da oben, über ihrem toten Körper? Es ist ungeheuerlich, dass er hier ist. Lass sie in Ruhe, alter Mann! Wie kannst du es wagen, ihr Make-up mit deinen Krokodilstränen zu ruinieren? Sie sieht immer noch so schön aus. Es muss eine Ewigkeit gekostet haben, ihren ramponierten Körper zu restaurieren, die Wunden an ihrem Hals zu nähen und die gebrochenen Rippen neu zu ordnen, damit ihre Brust nicht deformiert aussieht. Haben ihre Eltern sie überhaupt gesehen, bevor man sie zusammengenäht hat? Ich denke schon. Jemand muss sie identifiziert haben, oder vielleicht hat man ihnen nur das Gesicht gezeigt, zerschrammt und zerfetzt, aber sie war immer noch erkennbar – zumindest für mich.
Warum müssen die Leute direkt hinter mir ständig flüstern? Sie verderben mir das letzte Mal, dass ich Lina sehen kann und worüber sie reden, ist nicht einmal relevant.
„Ich hoffe nur, dass sie in den Wochen vor ihrem Tod nicht verängstigt war. Wann ist sie noch mal verschwunden?“
Verschwunden klingt wie durch Magie: als hätte jemand mit den Fingern geschnippt und sie wäre fort gewesen. Lina ist nicht verschwunden, sie wurde nicht fort gezaubert, sie ging: begab sich an einen Ort, von dem sie wusste, dass sie vielleicht nie wieder zurückkehren würde und sie genoss es, inspiriert von Dunkelheit und Gefahr.
Sie ist so talentiert gewesen. Ein Meister an der Leinwand und war stets auf der Suche nach Inspiration. Ich würde gerne glauben, dass ich ihre Muse war, wenn auch nur für kurze Zeit. Das letzte Bild, das sie gemalt hat, war ihr grausamstes und zugleich das beste. Mach dir keine Sorgen, Lina, ich werde es in Ehren halten. Bis ans Ende der Tage wird es den Eingang zu meiner Halle zieren. Du hast es mir überlassen, weil du wusstest, dass ich jeden Pinselstrich, jeden Punkt, jede Linie darauf schätzen würde, sogar die Stellen, an denen deine Fingernägel panisch die Farbe abgekratzt haben. Du hast den Gemälde nie einen Titel gegeben, aber als ich es zum ersten Mal sah, wusste ich, wie ich es nennen würde. Geordnetes Chaos. Voller Gefühl – chaotisch – obwohl die Pinselstriche eine perfekte Ordnung ergeben. Es gibt wieder, wer du warst: Chaos mit einer eigenen Ordnung und wer weiss – wenn ich irgendwann sterbe, wird es vielleicht dieses Gemälde sein, das dich unsterblich macht und zugleich mich, weil du es in meinem alten Schuppen ins Leben gerufen hast hast, kurz bevor du starbst.
Ob ich es deiner Familie zeigen sollte? Wahrscheinlich nicht, sonst würden sie mich wahrscheinlich erkennen. Sie verdienen es gar nicht. Nicht dein Bruder, der sich gerade die Augen wischt, obwohl er nicht weint. Nicht dein Vater, der so tut, als würde er sich zu dir in den Sarg legen wollen und auch nicht deine Mutter, die mich noch immer komisch ansieht, weil sie herauszufinden versucht, wer ich bin. Sie hatten dich nicht verdient, Lina, und sie haben das Bild nicht verdient, in dem du deine Seele hinterlassen hast.
„Die arme Familie,“ stören die Quasselstrippen hinter mir. „Wie lange hat es nochmal gedauert, bis die Polizei sie gefunden hat? Ein paar Monate, ja?“
Genau 189 Tage, du Idiotin! 180 hat es gedauert, bis sie überhaupt eine Spur gefunden haben. Eine Haarsträhne im Wald, wo Lina immer joggen ging. Sie sah so konzentriert aus, wenn sie lief. Als hätte sie die Welt im Kopf und versuchte, sie fort zu atmen, ein und aus. Ich frage mich, ob es ihnen endlich die Lippen versiegeln würde, wenn ich ihnen etwas davon erzählte. Vielleicht sollte ich es tun und wenn ich es täte, könnte ich möglicherweise wieder meine Finger spüren. Wenn sich meine krampfende Faust nicht lockert, wird meine Hand wahrscheinlich einschlafen und ich werde gegen den Beichtstuhl schlagen müssen, um wieder etwas zu fühlen.
So wie meine Hand musst du dich gefühlt haben, Lina. Taub und schwer in den letzten Monaten deines Lebens. Du wolltest nicht mehr hier sein und bist überhaupt erst in meinen Jeep gestiegen, damit ich dich fortnehmen könnte. Anders als alle anderen kenne ich die Wahrheit. Schließlich habe ich dich lange genug beobachtet. Mehrere Monate lang habe ich aus den dunkelsten Ecken der Straßen deine Verzweiflung gesehen. Ich habe die Sehnsucht in deinen Bildern erkannt, habe die Langeweile hinter jedem Lächeln gespürt und die kryptischen Selbstmordgedanken in deinem Tagebuch gelesen.
Du wolltest fort, weil sie dir ein geordnetes Leben abverlangten. “Lieber würde ich sterben,” hast du deinem Tagebuch gesagt, weil du dich ohne das Chaos, das Leben für dich war, nicht lebendig fühlen konntest. Ich hoffe, die schluchzenden Heuchler in dieser Kirche werden irgendwann verstehen, dass sie dich umgebracht haben, als sie dir das Chaos nahmen.
Deine Kehle durchtrennt habe ich, aber umgebracht habe ich dich nicht – das hätte ich nie. Ich habe dich geliebt, Lina: aus der Ferne und ohne die Erwartung, zurück geliebt zu werden. Bedingungslos genug war meine Liebe, um deinem Leiden ein Ende zu setzen, als ich es erkannte. Aus Gnade und dass ich es tun musste, liegt nur an ihnen: den Leuten, die dich umgaben, aber niemals kannten.
Seit 2010 ist Sima B. Moussavian Ghostwriterin und Romanautorin. Ihre Kurzgeschichten wurden in mehreren Zeitschriften veröffentlicht. Obwohl ihr Schreiben vor allem von der Schönheit des Hässlichen und Autoren wie Charles Bukowski inspiriert wurde, schlägt ihr Herz für die Schwarze Romantik.
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