Die wahre Entdeckung Pompejis
– ein leicht zu übersehendes Jubiläum
Nora Hille für #kkl20 „bedingungslos“
Untergang und Auferstehung
Lass mich die Asche sehen,
durch die du gewandert bist,
des Nachts, schnellen Fußes,
verbrannte Frau du,
in deiner weißen Tunika,
bedeckt von einer rosaroten Stola,
gefärbt mit Rosenkrapp und zierlich bestickt.
Dein Kind fest an deine Brust gepresst,
durchwanderst du die Asche
eilenden Fußes
auf deiner Flucht.
Wie schnell sie sich hebt und senkt,
deine Brust, du ringst nach Atem,
dein Herz schlägt wild gegen deine Rippen,
während du dich mit jedem Schritt
durch diesen heißen Aschesturm vorwärts kämpfst.
Deine Füße und Beine übersät mit Brandblasen,
die aufplatzen, rohes Fleisch hinterlassen.
Schmerz, was für ein brennender Schmerz!
Eigentlich müsstest du ohnmächtig niedersinken
– doch da ist dieses Kind in deinen Armen,
dein einziges Kind.
Das du so sehr liebst und
in Sicherheit bringen willst.
Du lagst schon im Bett,
doch warst du unruhig,
weil es jammerte, im Traum, dein Kind.
In dir das vage Gefühl,
dass etwas nicht stimmt,
heute, in dieser Nacht.
Als du zu deinem Kind gingst,
es trinken ließest,
spürtest du den Berg.
Spürtest sein Wüten,
noch ehe es begann.
Da wusstest du,
dass ihr nicht länger sicher seid
in eurem Heim
und wünschtest dir nichts sehnlicher,
als deinen Mann an deiner Seite zu haben,
der diese Nacht im Stall verbrachte,
bei seiner Stute,
kurz vor der Geburt ihres Fohlens.
Zum Stall, zum Stall!
Überall Ascheflocken in der Luft,
er lässt dich husten, der Ascheregen,
deine Augen brennen.
Dein Sohn beginnt zu wimmern.
Und diese sengende Hitze…
Mit deiner Stola
umhüllst du dein Kind,
umhüllst seinen Mund
und den deinen.
Immer wieder ein gehetzter Blick
über die Schultern.
Der Berg!
Immer mehr Hitze strahlt er ab,
immer mehr Asche erfüllt die Luft,
dazwischen schwarze Bimssteinbrocken –
sie knallen auf das Pflaster wie harte Geschosse.
Nur fort, fort!
Der Weg zum Stall noch so weit.
Dort, die Therme
mit ihren gefüllten Wasserbecken.
Sicherheit?
Du läufst darauf zu,
reißt die schwere Eichentür auf,
schlägt sie
direkt hinter dir
wieder zu.
Schweigend verharrst du Frau, Mutter du,
mit deinem wimmernden Kind, bis es einschläft.
All die Menschen in der Therme
– sind sie dir ein Trost?
Legst dich vorsichtig
auf einer der Marmorbänke nieder,
dein Kind in deinen Armen geborgen.
Ganz leise singst du ein Schlaflied.
Wen willst du damit beruhigen?
Auf ein Mal beginnt es über dir
bedrohlich zu ächzen und zu knacken.
Das Gebälk! Es muss wohl mittlerweile
eine zu hohe Aschelast auf ihm liegen.
Du denkst an deinen Mann.
„Warum nur habe ich dich
heute nicht mit einem Kuss verabschiedet,
wie ich es sonst immer mache?“
Eine Träne perlt dir über die Wange.
Salzig und langsam, ein dünnes Rinnsal,
das durch die Hitze der Luft
wie ein Flussbett in der Wüste
sofort wieder ausdörrt.
Das Atmen fällt dir immer schwerer.
Menschen keuchen, ringen nach Luft.
Der Ascheregen scheint den ganzen Sauerstoff
aus der Luft zu ziehen.
Frau, du denkst an deinen Mann
und du weißt,
ihr werdet euch nicht wiedersehen.
Er wird seinen kleinen Sohn
nicht noch einmal
hoch in die Luft werfen,
bis er jauchzt.
Nicht sehen,
wie sein Sohn das erste Mal
mit wackeligen Schritten auf ihn zugeht.
Wird nicht hören, wie der Kleine sagt:
„Papa, zeig mir das Fohlen.“
Du zitterst vor Angst
und denkst dabei an Olivenhaine,
an Weizenfelder und blühende Apfelbäume.
An all deine Träume, Wünsche und Hoffnungen.
Erneut rinnt dir eine einzelne Träne
über die Wange.
Noch schwebt er in der Luft,
der Schrei des Kuckucks,
während sie versinkt – die Stadt –
in tödlicher Hitze, Asche und Glut
für eine Ewigkeit.
Pompeji.
Du untergegangene,
wiedergefundene,
unvergessene Stadt.
Die du deinen Bewohnern Grabstätten
unter tödlichen und doch schützenden
Aschedecken gegeben hast.
So dass sie heute noch da liegen,
Arm in Arm, die Mutter mit ihrem Sohn.
Und noch so viele anderen Menschen,
die vom Ausbruch des Vesuvs
überrascht wurden,
nicht rechtzeitig fliehen konnten.
„Vor 530 Jahren, im Jahr 1592, stieß der aus dem Tessin stammende und in Italien tätige Architekt, Maler und Bildhauer Domenico Fontana (1543-1607) bei Kanalbauarbeiten auf antike Inschriften, für die sich damals jedoch niemand interessierte. 150 Jahre später stellte sich heraus: Fontana hatte Pompeji entdeckt!
Die Stadt am Golf von Neapel war beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. verschüttet worden, blieb unter der Vulkanasche aber weitgehend konserviert. Erst 1748 begann die wissenschaftliche Ausgrabung“.

Nora Hille, Jahrgang 1975, verheiratet, zwei Kinder. Studium Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften. 12 Jahre Arbeit im Bereich Kommunikation/PR. Aus gesundheitlichen Gründen verrentet. Schreibt als Betroffene und Erfahrungsexpertin zu den Themen mentale Gesundheit, Psychische Erkrankungen und engagiert sich für die Anti-Stigma-Arbeit, also gegen die Stigmatisierung (Ausgrenzung) psychisch Kranker in unserer Gesellschaft für mehr Miteinander, Toleranz und Gleichberechtigung. Veröffentlicht seit 2022 beim Online-Magazin FemalExperts.com – Das Online-Magazin für Businessfrauen mit Ambitionen – als Kolumnistin monatlich zu Mental Health-Themen. Außerdem verfasst sie literarische Essays, Gedichte und Kurzprosa. Ihr erzählendes Sachbuch wird im Herbst 2023 in einem Verlag veröffentlicht. Auf Instagram zu finden unter: @norahille_autorin
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