Ohne Titel

Klaus Enser-Schlag für #kkl20 „bedingungslos“




Sie schaut ihn beglückt an. Ja, er ist endlich der Richtige. Wie oft schon hatte sie in der Liebe verloren: aus Enttäuschung, Verbitterung oder dem Gefühl, den hochgesteckten Erwartungen des Partners nicht zu genügen. 

„Heute muss eben alles perfekt sein“, hatte ihr ein selbstverliebter Typ ins tränennasse Gesicht geschleudert. „Und – sorry – das bist du nicht. Du hast kein perfektes Gesicht, bist mir zu pummelig und deine Art – viel zu ruhig! Mit dir könnte ich ja nirgends hingehen, geschweige denn, dich meinen Freunden vorstellen!“

Wie oft verbrachte sie ihre Zeit auf Dating-Portalen, suchte ihn, den Einen, der sie versteht und sie so annimmt, wie sie nun mal ist. Was hat es für einen Sinn, sich selbst zu verleugnen, Theater zu spielen? Wie lange kann ein Mensch das durchhalten? Und dann, wenn die mühsam zusammengehaltene Fassade einstürzt? Ist die Enttäuschung des Partners nicht ungleich größer? Mischen sich zu dem Gefühl des Betruges nicht auch Wut, im schlimmsten Falle sogar Rachegelüste?

Sie weiß, dass sie keine klassische Schönheit ist. Aber sie weiß auch, dass sie viel Liebe und Fürsorge zu geben hat. Wird sie gerade deshalb von den Männern belächelt und als „Kumpeltyp“ bezeichnet? Doch nun hat sie IHN getroffen. Dreimal sind sie schon miteinander ausgegangen. Er ist ihr Traummann. Sie hat sich schnell in ihn verliebt. Groß, sportlich, ein sympathisches, offenes Gesicht. Im Gespräch ist er charmant, humorvoll, stets zugewandt. Er schaltet jedes Mal sein Smartphone aus, ist in der gemeinsamen Zeit ganz für sie da. Fast scheint es ihr, als wäre er zu viel für sie. Da ist es wieder, dieses Gefühl des Nicht-genug-seins. Es nagt an ihr wie ein tödliches Krebsgeschwür. Sie lächelt ihn an. Er soll nicht merken, wie stark sie ihre Komplexe und negativen Erfahrungen im Moment überfallen.

„Weißt du was?“, sagt er und blickt sie dabei liebevoll an. „Ich glaube an die bedingungslose Liebe. Und ich möchte sie mit dir erleben“.

Diese Worte brennen sich in ihr Herz. Sie fühlt eine nie gekannte Sehnsucht in sich aufsteigen. Sie wünscht sich, er würde sie jetzt fest in seine Arme nehmen und nie mehr loslassen.

„Das hat mir noch nie jemand gesagt“, flüstert sie und bemüht sich, nicht zu weinen.

„“Dann wusste keiner von deinen früheren Partnern offenbar, was Liebe wirklich ist“.

Nein, davon hatten die wohl tatsächlich keinen blassen Schimmer.

„Jemanden zu lieben, nur weil er bestimmte Voraussetzungen erfüllt, mutet schon fast ein wenig abgebrüht an. Es ist berechnend, findest du nicht?“

Sie nickt stumm mit dem Kopf.

„Es geht in der Liebe doch auch um Akzeptanz und Wertschätzung und nicht um Umerziehung“.

Wieder nickt sie stumm.

„Einen Menschen nur um seiner selbst willen zu lieben, zeugt gleichzeitig von geistiger Größe, sowie einer inneren Reife und Stärke“.

Ein ungutes Gefühl macht sich plötzlich in ihr breit. All das, was er sagt, klingt schön, fast zu schön. Und es hört sich irgendwie nach auswendig gelernten Phrasen an.

„Gibt es die bedingungslose Liebe nicht eher zwischen Eltern und Kindern?“, fragt sie vorsichtig. „Viele suchen vielleicht in der Partnerschaft das, was sie als Kinder in der Familie nicht erlebt haben“.

Im ersten Augenblick sieht er irritiert aus. Traut er ihr solche Schlussfolgerungen vielleicht nicht zu? Doch schnell hat er sich wieder gefangen.

„Das ist pseudointellektuelles Denken“, sagt er und sie merkt den leichten, aggressiven Unterton in seiner Stimme. „Wenn man einen Menschen bedingungslos liebt, verzeiht man ihm alles und akzeptiert auch seine Schwächen und Fehler. Das ist die reinste Form der Liebe!“

Sie bekommt Angst. Was hat er bisher vor ihr verborgen, dass er auf einmal so leidenschaftlich für Fehler und Schwächen wirbt? Möchte er sie auf etwas vorbereiten, dass ihr nicht gefallen könnte?

„Und außerdem gibt es noch ein Merkmal der bedingungslosen Liebe!“, schiebt er trotzig nach und erwartet ihre Rückfrage.

„Und die wäre?“, antwortet sie erwartungsgemäß.

„Die unumstößliche Bedingung bei der bedingungslosen Liebe ist die, dass sie bedingungslos ist!“

Nach einer Viertelstunde verlassen beide das Restaurant. Sie werden sich nie wiedersehen…




Klaus Enser-Schlag geboren 1964 in Stuttgart, schreibe Gedichte, Kurzgeschichten und Hörspiele (vornehmlich für den Schweizer Rundfunk SRF). Meinen ersten Rundfunkbeitrag schrieb ich 1996 für den SDR (heute SWR).  Mehr über meine Arbeit gibt es unter:

https://de.everybodywiki.com/Klaus_Enser-Schlag

und

https://www.srf.ch/audio?q=klaus+enser-schlag&date=all&page=4   (Bitte kurz warten, bis sich die Seite aufgebaut hat)






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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