Ohne Titel

Mark Klingler für #kkl20 „bedingungslos“




Die erste Zigarette am Tage missfiel ihm jedes Mal ein bisschen mehr und doch drehte er sich wie jeden Morgen auf die Seite des Bettes, die näher an der Tür des kleinen Balkons lag. Er nahm die Zigarette vom Nachttisch und das Feuerzeug von der Fensterbank und ging hinaus in die kalte Luft eines Novembermorgens, der versprach, exakt so zu werden wie jeder andere Tag des Novembers bisher. Die eine Filterzigarette legte er jeden Abend auf den Nachttisch und baute sich somit ein eigenes kleines Gefängnis aus Gewohnheiten, aus dem er zwar auszubrechen bereit, aber keinesfalls willens war. Ihm, der rauchend und noch schlaftrunken auf dem Balkon stand und fröstelte, wurde klar, dass er diese Einschränkung, welche jede Sucht darstellt, braucht und auf eine gewisse Weise vielleicht sogar verdient. Traurig machte ihn der Gedanke nicht, jedoch rauchte er an diesem Morgen mit einer noch größeren Leere im Herzen als gewöhnlich.

Dieses Gefühl von Leere beobachtete er zum ersten Mal nach dem Tod seiner Frau. Nicht, dass er sie abgöttisch geliebt hatte und nun folgerichtig trauerte. Nein, dafür war ein Mann wie er nicht gemacht. Ein Mann wie er verbietet es sich selbst solche Gefühle zu entwickeln, schränkt sich dadurch zwar wissentlich ein, wird aber auch nicht enttäuscht. Wenigstens für ihn klang das nach einem fairen Tausch: Der Preis für den Panzer, der seine Seele zu schützen schien, war der Verlust der Chance auf ehrliche Liebe.

Seine Frau, Theresa, war nach kurzer, aber umso schwererer Krankheit gestorben. Viel zu früh war sie gegangen, nur 33 war sie geworden, viel zu wenig hatte sie gesehen. Von der Welt und was viel schlimmer war: von ihm. Sie glaubte ihn zu kennen, ihren Mann, in- und auswendig, vom Scheitel bis zur Sohle. Er wusste, dass sie ihn bedingungslos geliebt hatte.

Er drückte die Zigarette in den leeren Aschenbecher und blieb noch einige Momente auf dem Balkon stehen. Die Zeiger seiner Uhr standen auf 5:30. Zwei Stunden noch bis Arbeitsbeginn. Er ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an, die seine Frau ihm zu Ehren seines 30. Geburtstags geschenkt hatte. Sie hielt die Maschine für ein passendes Geschenk. Vor drei Jahren, an seinem Geburtstag, gab er sich freudig überrascht. Eine Stange Zigaretten oder ein guter Whiskey wären ihm lieber gewesen. 

Die Wohnung war zu groß für ihn. Seine Frau hatte wegen ihrer Malereien viel Platz in Anspruch genommen. Nach ihrem Tod standen Staffelei und Bilder knapp ein halbes Jahr in der Gegend herum. Nun waren sie weg, der Platz war frei, doch er fühlte er sich trotzdem eingeengt.

Im Kleiderschrank befand sich wenig. Er wählte eines der weißen Hemden und eine dunkelblaue Jeans, zog seine Schuhe an, griff seine Jacke und ging hinaus in die Kälte. Als Erstes zündete er sich eine Zigarette an und lief dann weiter zu seiner U-Bahn-Station. 

6:10, noch fünfzehn Minuten bis seine Bahn einfuhr. Nur an zwei Tagen war sie nicht pünktlich gefahren. Er erinnerte sich genau an diese beiden Tage. Sie waren die spannendsten gewesen.

Die Ansage einer mechanisch klingenden Stimme vom Band löste die Leere in ihm: Ein Zug würde umgeleitet und überfahre seine Station.

6:17, noch eine Zigarette. Nur der Rauch und die völlig leere U-Bahn-Station. Die Geräusche des Zuges wurden lauter. Er schloss die Augen, machte drei Schritte nach vorn. Wahrscheinlich liebte auch er bedingungslos. 

Dann nichts mehr.




Mark Klingler

Alter: 20 Jahre

Beruf: Studium des Lehramts für Gymnasien und Gesamtschulen

Wohnort: Lippstadt






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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