Ein Leben im Fluss

Janus für #kkl20 „bedingungslos“




Ein Leben im Fluss

Sie lieben sich. Wie sich nur zwei Karpfen lieben können. Henri und Leodora haben sich auf einem Dating-Portal kennengelernt: Fisch sucht Fahrrad. Sie hat ihn zum Mückenlarven schlabbern eingeladen und beide waren sofort verliebt. Und nun ist Henri seit bald drei Jahren Leodora’s Schwarm. Obwohl sie vom Erscheinungsbild her eigentlich ein ungleiches Paar sind: Leodora schwimmt mit einem durchgedrückten Rücken und die grazilen Bewegungen ihrer Afterflosse, rühren von dem jahrelangen Tanztraining her. Mit ihrem freundlichen Lächeln, ohne dabei Luftblasen aufsteigen zu lassen, hat sie die Anmut eines Goldfisches. Henri dagegen ist der Typ Abenteurer. Durch das Training als Rettungsschwimmer hat er kräftige Flossen und einen muskulösen Rumpf entwickelt. Seine wild wachsenden Barthaare und großen spitzen Reißzähne, die beim Lachen aufblitzen, verleihen ihm die Aura eines Fisches, der die Weltmeere kennt.

Aus einem Fischauge objektiv betrachtet, macht es jedoch Sinn, dass die beiden den Wunsch des gemeinsamen Nachwuchses haben. Doch hierfür steht ihnen eine beschwerliche Reise bevor. Denn das Laichen macht der Karpfen gemeinhin am Liebsten am Ursprung eines Flusses. Und eine solche Reise ist keine Kutterfahrt. Es ist ein beschwerliches Unterfangen und es dauert viele Tage lang. Es heißt es sind Karpfen schon tot vor Erschöpfung flussabwärts getrieben. An der Reise ist nur die Richtung einfach, man muss gegen den Strom schwimmen.

Doch all das bekümmert unsere beiden verliebten Karpfen am Morgen ihrer Abreise nicht. Es ist herrliches Wetter. Das Licht der Sonne bricht in den Wogen des Flusses und färbt das Wasser in Korallenblau. Noch am Abend zuvor haben sie sich in einem Fischrestaurant gestärkt und mit einem guten Tropfen auf ihre bevorstehende Reise angestoßen.

Nach einigen Tagen unentwegten Schwimmens allerdings lassen die Kräfte nach und sie müssen sich abwechselnd von hinten anschieben, damit es weiter vorwärts geht. Und obwohl sie sich bereits die ewige Liebe geschworen haben, scheint Gott oder wer auch immer, sie testen zu wollen.  Denn draußen in der trockenen Welt werfen zwei Angler ihre Angelruten weit hinaus in den Fluss. Henri ist gerade dabei Leodora von hinten anzuschieben, als plötzlich ein schmackhaft tanzender Wurm vor Leodora’s Maul auftaucht. Ihr Hunger ist größer als ihre Vorsicht und sie beißt zu. Aber die Sache hat einen Haken, den sie zwar noch in letzter Sekunde in der Sonne aufblitzen sieht, aber da ist es schon zu spät. Im nächsten Moment wird sie von einer unsichtbaren Schnur Richtung Wasseroberfläche gezogen und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Nicht ganz, denn ihr Henri erkennt die Lage, er schaut nach links und rechts und beißt todesmutig in einen zweiten Wurm, der ebenfalls an einem Haken befestigt ist. Und so wird auch Henri in Richtung seines sicheren Todes gezogen. Das erste was Henri außerhalb des Wassers wahrnimmt, ist das grelle Licht der Sonne. Er kneift die Augen zusammen. Doch es bleibt nicht viel Zeit geblendet zu werden. Eine grobe schmutzige Hand packt ihn und reißt ihm den Haken aus dem Maul. Seine Lippe beginnt zu bluten. „Ich zieh hier nur olle Karpfen aus dem Wasser!“ Ruft der Angler einem anderen zu. „Ich hoffe, Du teilst sie trotzdem später schön brav!“ Bekommt er als Antwort. Und der erste Angler wirft Henri ohne ihn eines Blickes zu würdigen, in einen Eimer und antwortet: „Fein säuberlich in der Mitte durch!“ Er lacht und dabei kommt sein Gebiss mit den schiefen Zähnen zum Vorschein. Es drängt sich unweigerlich die Vorstellung auf, wie diese gelben, abgebrochenen Zähne in das heile, weiße Fleisch von Henri und Leodora beißen.

Henri landet in einem blauen Plastikeimer, der auf dem Kies am Ufer des Flusses aufgestellt ist. Zu seinem Schrecken ist kein Wasser in dem Eimer. Stattdessen ist er umgeben von toten und halbtoten anderen Fischen. Henri spürt wie seine trockenen Kiemen ihm die Kehle zuschnüren. Sein Kopf rattert; er hat zwei, maximal drei Minuten, dann verliert er das Bewusstsein. Er blickt sich um. Um ihn herum sterbende Fische. Mit ihren Mäulern schnappen sie nach Wasser um Atmen zu können. Aber da ist kein Wasser. Mit ihren weit aufgerissenen Augen und Mündern steht der Schreck ihnen ins Gesicht geschrieben. Das Sterben findet ohne Beachtung statt. Jeder Fisch kämpft um sein eigenes Überleben. Henri schmeißt seinen Unterleib nach links und rechts und schiebt dabei die gequälten Tiere zur Seite. Er hat keine Zeit für Empathie. Er muss Leodora finden. Als er einen toten Barsch zur Seite schiebt, erblickt er sie. Ihre Unterlippe wurde durch das Herausreißen des Hakens in zwei Teile geteilt. Als sie ihren Henri sieht, reißt sie ihren Mund ein Stück weiter auf. Was hat er getan? Warum nimmt er sich das Leben? Henri schlängelt sich an sie heran. Die beiden schauen sich in die Augen. Für einen letzten Augenblick. Es kann Flusswasser sein, aber es sieht so aus als liefen ihnen Tränen an den Augen entlang. Sie hatten doch noch so viel vorgehabt und nun ist ihnen alles genommen. In einer unaufmerksamen Sekunde. Umgeben von sterbenden Fischen, die sich winden, als könnten ihre Bewegungen ihr Schicksal beeinflussen, bleiben unsere beiden verliebten Karpfen ganz ruhig und geben sich dem sterbenden Moment hin. Sie spüren wie der Sauerstoffmangel ihnen die Kraft entzieht. Sie akzeptieren ihre unerfüllten Träume. Und spüren Dankbarkeit für die Zeit, die sie miteinander1 hatten.

Doch dann erinnert sich Henri wie ihm bei einem Überlebenslehrgang ein Zitteraal eine Rettungsbewegung beigebracht hat. Gott schenkt ihm ein letztes bisschen Kraft und er wirft sich mit einer spiralförmigen Bewegung gegen die Eimerwand, das ihm die Greten knacken. Der Eimer kippt um und die halb und ganz verendeten Fische werden über die Steine gekippt. Manche bleiben reglos liegen, andere rutschen zurück in den Fluss. Henri und Elodora machen noch eine zuckende Bewegung und erreichen so wieder das sichere Nass. Sie sind gerettet. Für die nächsten Stunden halten sie nur ihre verletzten Münder aneinander und geben sich der Strömung hin. Da bleibt kein Auge trocken. Erst Tage später nach großen Portionen Mückenlarven und Muscheln setzen sie ihre Reise fort. Viel später als geplant gelangen sie an den Ursprung des Flusses, wo sie gemeinsam Laichen. Sie führen ein glückliches Leben mit vielen Kindern und wenn sie die Zeit finden, gehen sie immer noch gerne Essen. Aber Würmer mit Haken haben sie von ihrer Speisekarte gestrichen.




Janus






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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