Felix Wender für #kkl20 „bedingungslos“
Der Schwund
Lieber Gott, ich hasse mich sehr.
Heute hallt mein Augenlicht zart im Fensterglas wider, dahinter eine Welt wie in schwarze Milch vernäht. Bei diesem Regen wirken die Gebäude verlassen, im Würgegriff der Rohre, von Gott und der Welt vergessen; die Seelen drohen zu verwässern, doch die Zellen hinter den Stäben legen sie wieder trocken. Gestern bin ich ausgebrochen; es schien mir absurd, von hier oben dauernd auf die Welt hinabzuschauen. Da unten am sommerlichen Hang bricht ein Licht hindurch und verlangt nach mir. Gestern hat man mich dort aufgelesen und wieder in diese Zelle verbracht; ich wollte mir doch bloß alles einmal von außen anschauen.
Was wolltest du in diesem Wald, gestern Nachmittag? Hast du nicht gefroren? Du hättest ernsthaft krank werden können. So wie du hier liegst, das ist doch kein Leben. Hier gibt es sogar Dosenpfirsiche, die mochtest du doch immer. Macht dir das keinen Appetit? Unglaublich, was dieses Fasten aus einem Menschen macht. Alles schrumpft, selbst der Kopf.
Hier drinnen umschlingen dreizehn mühsam eingeritzte Ringe einander auf der Raufasertapete und zählen meine Wochen wie Holzringe das Alter der Bäume, doch ahne ich, anders als die Bäume mit dem vierzehnten Ring vom Erdboden verschluckt zu werden.
Mittlerweile ist mein Körper richtig leicht, als könnte er beim nächstbesten Windstoß reißen, in vielerlei Teile zerstreuen, und ins Weite getragen werden, wie die Samen eines Löwenzahns. Während ich hier drinnen auf den Arzt warte, wende ich den Kopf umher, um die Eiche am Hang zu bewundern; ihre Wurzeln reichen tiefer als das Fundament dieser Anstalt. Nichts um mich herum drückt an mir, als wäre das Nichts mit Blei beschwert. Heute regnet es stark. Manchmal werden mir grundlos die Beine schwer.
Ich denke, das Verhalten ihres Sohnes deutet auf ein tieferliegendes Störgefühl und verlangt nach entschlossener, elterlicher Führung. Setzen Sie deutliche Impulse! Sie werden sehen, bald wird alles besser.
Lange Jahre schickte meine Mutter mich zum Kampfsport. Ich war ein schweigsamer, eigenartiger Junge, sie fürchteten, ich könnte irgendwann grundlos explodieren, doch im Kampf sollte ich lernen mich zu beherrschen. Anderthalb Jahre der Erniedrigung folgten, ich war zu groß für mein Alter, zu schwer aufgrund der Knochen, also trat ich bloß gegen Ältere an, die wesentlich erbarmungsloser kämpften, und jedes Mal aufs Neue warfen sie mich genüsslich zu Boden, dass es knallte. Mein Körper war zu viel, in ihm verbargen sich keine Talente. Mit jedem Wurf wünschte ich, er würde einfach am Boden zerplatzen.
Mit meinem dreizehnten Lebensjahr bin ich wunderlich geworden; ich wollte nichts mehr zu mir nehmen. Ich wollte es nicht mehr, keine Informationen mehr, nichts schlucken, nichts nehmen, nichts von ihrer Kleidung, keine Gespräche. Was sie mir einflößten, wollte ich wegschlafen, und was mir Gestalt verschaffte, verschwinden lassen; ich lag bloß dort, bis mein Körper wunde Schwielen bekam.
Anfangs noch, als ich anfing Gewicht zu verlieren, freuten sich alle, Tanten, Omas, die Mutter. „Toll hast du abgenommen“, lobten sie; wenn nur doch der Bauch nicht wäre, es mache mich so feminin. Dass ich sportlicher aussah, fanden meine Onkels gut; wenn ich doch nicht laufen würde wie eine Schwulette. Und dass ich in meiner Zurückgezogenheit so viel las, erfreute die Lehrer sehr; ob ich dennoch nicht mit anderen zur Abwechslung mal sprechen möchte?
Das Verhalten der anderen ihrem Kind gegenüber ist kein Ausdruck von Boshaftigkeit, verstehen Sie? Es ist mehr ein Missverständnis. Kein Stock will in seinen Händen zum Schwert werden, kein Tritt zum Schuss, er isst nichts, bringt nichts hervor. Kein Wunder also! Doch machen Sie sich keine Sorgen: ein depressives Kind ist kein Weltuntergang. Machen Sie nur etwas dagegen.
Noch bevor ich überhaupt zur Welt gekommen bin, schien sich unsere Familie darauf verstanden zu haben, nicht aus der Reihe fallen zu wollen. Unser Reihenhaus war das Schlichteste, was man sich vorstellen konnte; nur die Birke im Vorgarten hatte Charakter. Nach einer Hochwasserkatastrophe wurde das Haus, da kündigte ich mich gerade im Mutterleib an, auf tragische Weise ruiniert – und die anstehende Hochzeit meiner Eltern musste auf wenige Jahre vertagt werden. Nie wieder schien der Mutter das Haus so schön, nie wieder war ihr die Gegenwart wertvoll genug, um der Vergangenheit abzuschwören, und gleich nach meiner Geburt stürzte sie in Trauer um ihren gezeichneten Körper in eine nie enden wollende Depression. Der Säugling, der ich war, wusste all das nicht zu verstoffwechseln und schrie, schrie so oft und lange, bis er drohte, in sich zusammenzufallen. Wie viel schöner vorher alles war, murmelte Mutter oft. Die Hochzeit, so meine Großmutter, wäre das einzige gewesen, was diese Tragödie hätte richten können.
Schau, da waren die Eltern auf Reisen, so leicht, rank, ohne Sorgen. Bald schon kamst du, und deine Mutter wurde schwer, der Vater flüchtig. Komme, was wolle, der Bauch bleibt dick, bleibt weich, und schmerzt. In ihm trägst du ein Unheil in die Welt.
Vielleicht muss ich einfach nur einen ausdauernden, echten Schrei ausstoßen, einen unprätentiösen, ehrlichen Brüll ins Nadelkleid der Lärchen erbrechen, auf dass das Gefieder um mich herum zu schlagen beginnt. Wäre das heilsam?
Ich hatte nie ein Bedürfnis zu schreien, zu zerstören, oder mich anderweitig bemerkbar zu machen. Gestern noch wollte ich am Hang unter der Eiche sterben, im Regen liegen, bis er den letzten Rest von mir wie Papier aufgeweicht hätte, die kleinste Regung hätte mich in Fetzen gerissen, bis ich kleinteilig mit dem Wasser in den Grund gesickert wäre, und noch in einem Jahr wäre ich wieder ausgetrieben, wie ein Reigen um die Eiche. Doch sie lassen mich nicht.
Tagelang liegst du bloß auf dem Rücken, mit Blick nach draußen, du schaust wohl fern, ins Nichts heraus. Nirgends an dir hängt noch Fleisch, nicht am Gesicht, nicht am Hals, nicht an den Schultern, den Armen, Beinen, nur am Bauch, ein Depot, wer hat’s da abgelegt? Bald wirst du nicht mehr gehen können, du Hungerleider, hast du noch nicht genug? Höre doch auf die arme Mutter. Hast du ihr nicht genügend Leid beschert?
Vor einiger Zeit habe ich Brand gelegt. Feuer brächte uns zu dem zurück, was wirklich zählt. Wo Asche wäre, wüchse ein Wald, dachte ich. Mir war vollkommen klar, sie würden mich hierher bringen.
Eines Nachmittags fand ich einen goldenen Barockrahmen am Straßenrand; man hatte ihn wohl entsorgen wollen, und auch wenn ich nicht wusste, was ich mir einrahmen wollte, nahm ich mir gleich vor, ihn mitzunehmen und ein Loch dafür zu bohren. Erst zuhause merkte ich, dass ich gar nicht imstande war, ein Loch zu bohren, und der Rahmen staubte von Woche zu Woche ein.
Bald schon kam mir dann der zündende Gedanke. Als ich sein Hölzchen dann entflammte, spürte ich das erste Mal im Leben eine wild ausschlagende Wut. Stolz war ich darauf. Nie zeigte ich Wut, ich war es mir nicht wert. Man hatte sie mir aberzogen. Jetzt bin ich hier. Und meine Gedanken rinnen durch die Fugen.
Irgendwann wirst du 50 sein und immer noch keine Löcher bohren können. Selbst wenn dein Vater noch lebte, würdest du dich schämen, ihn zu fragen. Du bist schlicht und ergreifend zu nichts zu gebrauchen.
Vor Kurzem haben meine Eltern die Birke aus dem Vorgarten abgeholzt. Sie machte einfach zu viel Arbeit, erzählte mir eben meine Mutter. Selbst zuhause, umringt von Legionen an Bäumen, Ruhe und Raum, haben sie jegliches Gefühl füreinander verloren, dachte ich. Der Ort, aus dem ich stamme, hat sich bis heute nie vollständig von seinen Missetaten erholt. Meine Nieren sind bereit, nun folgerichtig zu versagen.
Ist es das, was du willst? Schnell, schnell, lass mich dir noch diesen Mantel umlegen, alles um dich wird grau, kräuselt sich wie Wolle, widerspenstig, aber warm, um deine Augen. So ist gut, verschließe sie, alles wird schwer, ein ganz normales Tief. Weg damit, bedeutungslos. Gefühle kommen und gehen.
Es war nur ein Traum, sage ich laut, als meine Mutter überrascht aus ihrem Sekundenschlaf aufschreckt, während der Krankenwagen mit mir als unliebsame Fracht still die Kurven des Berges hinunterrollt, weg von der Anstalt, es ist etwas passiert. Die Blicke meiner Mutter klemmen an meinem Ohr; eine ganze Weile hat sie sich nicht gekämmt, die Finger zittern stark. Ich gehe nun statt deiner, Mutter. Ein Krähenzug zieht seine letzten Kreise.
Vielleicht ist alles bloß ein Traum. Im Moment des Träumens hältst du alles für wahr.
Was treibst du nur? Hörst du mich? Willst du sterben? Willst du wirklich jetzt sterben? Bist du denn verrückt geworden?
Ja, und? Ist es denn verboten sterben zu wollen?
Die schriftstellernde Person
Felix Wender (28 Jahre alt) beruflich zu verorten als Referandar*in im Bereich Lehramt, wohnhaft in Köln, schreibt eine Vielzahl literarischer Texte im Bereich Prosa (Belletristik, Kurzgeschichte) und Lyrik, mit thematischen Schwerpunkten im Bereich geschlechtlicher Identität (problematische Maskulinität, queer identity), Sexualität (Dysphorie/Euphorie) und mentale Gesundheit.
Literarisches Engagement
In unkommerziellen Lesekreisen (Literaturhaus Köln und Bonn), Lesungen bei Kulturveranstaltungen (z.B. DickClit Berlin), Schreibseminare (Literaturhaus Bonn, Olaf Petersen), und vieles mehr.
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