Hinauf in höchste Höhen

Oliver Fahn für #kkl20 „bedingungslos“




Hinauf in höchste Höhen

Der seit geraumer Zeit aufsteigende Pfad ist von Wurzeln überwuchert. Nur rückwärts komme ich auf dem mit Nadeln bedeckten Weg voran. Wir beide tanken die ätherischen Dämpfe des Waldes, in dem wir unsere Ausflüge verbringen. David, schlaf ruhig weiter, du sollst dich nicht anstrengen. Martha warst du eine schwere Geburt. Das soll dich aber nicht belasten. Auch du hattest zu leiden. Deine Mutter und du. Während ich dich hier in den Schlaf schaukle, versuche das Holpern soweit auszugleichen und abzufangen, dass du nicht aufschreckst. Deine Hände kneifen, ballen sich zu winzigen, absurd aussehenden Fäustchen. Nichts an meiner Körperkraft kann dich faszinieren, als ich dich in den Schlummer wiege und darauf achte, dass wir nirgends hinkommen, wo Motorsägen unter jähem Krächzen dicke Baumstämme abholzen. Überhaupt will ich allein schon wegen Martha nicht sehen, wie die Sauerstoffproduzenten aus ihrer Rinde Harz herausbluten. Alles tut mir weh, seit man mir gesagt hat, du würdest vielleicht nicht durchkommen. Seither fühle ich in jedem Glied ein anfängliches Rosten. Hat deine Not bei zuvor noch nicht vorhandene Alterungsprozesse in Gang gebracht, sag David?

Im Rausch der Hormone bewältige ich den Anstieg, stets darauf bedacht, dass dein fragiler Schlaf, mein lieber David, nicht durch eine Unachtsamkeit meinerseits unterbrochen wird. Radfahrer oder Jogger, schon von weitem, wenn ich sie kommen sehe, liegt mein Finger auf meinem Mund. Gebt Obacht. Eine Furche auf meiner Stirn unterstreicht dabei mein stumm geäußertes Anliegen, sie sollen ruhig sein, sonst setzt es was. Heute haben wir uns in ein so unwegsames Gelände hineingearbeitet und mit seinen Gegebenheiten verwoben, dass wir auf keine Passanten stoßen. Ich brauche zur Regeneration meines Geistes rastlose Bewegungen in totaler Abgeschiedenheit. Sind meine Beine mit Arbeit beschäftigt, flutschen meine Gedanken. Paradox, nicht wahr? Wegen dir, Martha, halte ich keine menschliche Gegenwart mehr aus, insbesondere dann nicht, wenn sie in einer so intimen Umgebung wie einem an sich stillen Waldstück stattfindet.

Ich balanciere die Räder des Kinderwagens beim Rückwärtsgehen soweit aus, dass du lieber David, nicht erwachst und höre meine Stimme flüsternd, dir allerliebste Martha allein geltende Worte, vor mich hinsprechen. Seit du komatös auf der Geburtsstation dalagst und ich anstatt dir unseren Säugling halten musste, ist mein Gefühlszustand fragil, ich spüre Emotionen wie ein Wetterfühliger Temperaturumschwünge. In moosiger, von allmählich reifen Brombeeren durchsetzter Luft, atme ich immer auch ein stückweit für dein Leben mit ein, liebste Martha. Es ist mir ein Bedürfnis, dich Unterversorgte mitzuversorgen, deinen lahmliegenden Organismus auf Touren zu bringen und dich dann, wiedererstarkt, langfristig zu vitalisieren. Damit mich die Verantwortung nicht erdrückt, verschanze ich mich hier im Gelände sacht wehender Baumspitzen, bei hie und da unseren Pfad querenden Rehen, den Spechten, die ihr Tagwerk klopfend verrichten und stets bin ich dabei, David vor mir herzuschieben oder wie gerade eben hinter mir nachzuziehen, wenn’s steil bergan geht.

Wir fahren geradewegs, wenn auch mäandernd, auf eine Lichtung zu. Die Weide, die unsere Steigung krönt, gleißt vor Helligkeit. Und du, mein David, du mein Bub der noch keine sieben Monate alt ist, du schreist eigentlich nie. Nichts scheint dich über Gebühr zu erregen, selten siehst du Anlass zu toben. Spürst du schon, dass Martha, deine Mutter, nichts anderes wie Ruhe verträgt? Ich vermisse sie auf den Spaziergängen, zu denen ich sie nicht mitnehmen kann. Seit deiner Geburt, mein Bursche David, ist das unmöglich. Marthas Leben tanzt auf Messers Schneide. Ständig könnte etwas ritzen und schlitzen, ihr Dasein mit einem Mal zerreißen. Nicht auszudenken! Mein Handy steckt in der Hosentasche, sobald jemand anruft, vibriert es. Überraschend wenig Funklöcher zeichnen meine heimische Peripherie aus. Will gar die Natur mir in die Karten spielen? Dort drüben plätschert ein Bach, der aus dem Nichts mit glasklarem Wasser und von ihm reingewaschenen Steinen auftaucht.

Der Anstieg neigt sich den letzten Metern entgegen, wobei er steiniger wird und seine Steigung ins Unermessliche forciert. Oben angesiedelte, gebündelte Helligkeit machte mich beinahe blind, würde ich meinen Kopf gen Spitze wenden. Ich muss mich reinknien, meinen Oberkörper nach hinten zurücklegen, meine Fersen in den Boden stemmen, um den Kinderwagen gegen ein Schlüpfen zu sichern. Der weiche, von den Adern weit ausladender Wurzeln durchzogene Hohlweg, könnte zum Stolperpfad werden. Aufpassen! Der Junge hat ausreichend geschlafen, wenn es also ruckelt, er hochschreckt und nicht wieder einschläft, kein Problem. Stürzen darf er nicht. Ihn seitlich auszukippen wäre in seinem Alter, selbst angegurtet in der Babyschale, eine Tragödie. Ich helfe nach, verlange mir alles ab. Konzentration und Körperspannung. Will mir Seile einbilden, an denen ich wie eine Seilbahn hänge und kontinuierlich gezogen werde, kraft mechanischer Gesetze zum Scheitelpunkt des Hügels vorantreibe. Nach Leibeskräften sauge ich mich ans Plateau der sonnenvergoldeten Blumenwiese, ein Meer von Mohn, Sauerampfer und botanischem Allerlei, zu dem ich mich unermüdlich hochkatapultiere.

Die einzige Stelle der Umgebung, an der dieser Wald vor einer freien Fläche zurückweicht, erreiche ich in weniger als wenigen Schritten. Halte durch, flüstere ich mir zu. Streng dich an, du schlapper Gaul, füge ich an. Ich schnaufe, versuche jedoch meine Atmung zu drosseln, die Zyklen mit denen von David zu synchronisieren. Ich horche hin und folge dem Rhythmus seiner Züge fast ganz automatisch. Oben angekommen, raune ich am gefühlten Gipfelkreuz ein Stoßgebet in den zuerst von milchigen, bald von grauen Wolken überlaufenen Himmel. David schlägt seine Augen auf, blinzelt dem Äther zu, sein Blick rutscht ihm bald weg und er braucht einige Versuche, bis er ein Lächeln zustande bringt, von dem ich ausgehe, es gelte mir. Was mich augenblicklich beschäftigt, ist etwas völlig anderes: Wie soll es mit Martha weitergehen, mit David, falls seine Mutter stirbt, wenn der Anruf des Krankenhauses kommt, ein Arzt die Nachricht überbringt, Martha sei an den Spätfolgen von Davids Geburt erlegen? Ich hoffe sehnlichst auf einen Anruf und habe doch am meisten Angst davor, dass mein Handy vibriert und ich abnehmen muss. Durch welche Maßnahmen soll ich mich auf jene vollkommen unklare Botschaft einstellen? Wie werden die Dinge lauten, die mir die Stationsärzte über meine allerliebste Martha beizubringen haben?

Genug der Anstrengung sage ich mir, nehme die Hände von der Lenkstange. Ich lasse den Kinderwagen in matschiger Fahrrinne des angrenzenden Forstwegs einsinken, strecke mich in der Weite des freien, sauerstoffflutenden Raums und merke dabei, wie zugeschnürt meine Kehle ist. Ich drohe innerlich zu platzen, sobald ich über unsere familiäre Grenzsituation nachdenke. Bereits Monate andauernde Ungewissheit bringt mich um. Martha ist jung, zu jung um zu sterben, viel zu eingebunden mit David, dessen bald noch größere Ansprüche von seiner Mutter befriedigt werden wollen. Nennt man das, was mich spontan erfasst, eine manische Laune, den Anflug von Verrücktheit? Ich springe auf der Stelle, schließlich hüpfe ich immer höher, mir ist als würde ich Latten überspringen, Hindernisse im Sinne von Marthas baldiger Gesundung entzweien. David beginnt zu brabbeln, schlägt eine Melodie an, als wolle er mir singend von seinen Träumen berichten. Ich federe im Takt einer unhörbaren Musik. Kirchenglocken fallen vom Dorf her ein. Ihr dumpfer Klang aus dem Tal schallt kilometerweit.

Kurz bevor ich in Panik gerate, weil nachdenken über Martha immerzu in Frustration mündet und ich diese Ausweglosigkeit nicht weiter ertrage, vibriert mein Handy. Getraue ich mich ranzugehen? Ich sehe das Display blinken, auf ihm eine Nummer, es ist die des Krankenhauses. Meine Güte! David brüllt. Erstmalig am heutigen Tag. Ein mir unbekannter Arzt ist dran. Ich höre sein Schweigen durch Davids Schreie hindurch. Eine eindringliche Stille, die jede Geräuschkulisse vernichtet. Und ja, lange schweigt er, zäh dahinziehende Sekunden vergehen, bis er sich räuspert. Ah, jetzt erkenne ich ihn. Es ist Doktor Maler, der Stationsarzt, der Martha die wirren Monate der nie endenden ups and downs begleitet, durch all ihre Strapazen hindurchmanövriert. Welche Informationen will mir der erfahrene Untergangskapitän diesmal unterbreiten? Gibt es am Ende des Tunnels Entwarnung oder teilt er mir auf die schonendste Weise mit, die sein Sprachschatz für jene Ereignisse parat hat, alle Zuversicht fände einen jähen Abschluss?

Doktor Maler ist gerührt. Er versucht zu reden. Seine Stimme findet keinen Halt. Er muss schlucken, ehe er spricht. Dann beginnt er mit abgehakten Sätzen. Was zählt ist der Inhalt. Außer Puste und mit schweißnassem Rücken durchlebe ich einen krimiähnlichen Spannungsbogen. Sagen Sie was los ist, mahne ich leise. Als ich im Begriff bin, in den Hörer hineinzuplärren, platzt es förmlich aus ihm heraus. Seit der morgendlichen Visite sei klar, Martha ist soweit stabilisiert, dass sie von der Intensivmedizin auf eine Besuchsstation verlegt werden kann. Spätestens in zwei Wochen werde Martha entlassen.

Vom Himmel fallen dichte Tropfen, ein Sturzregen bemächtigt sich meiner Kleidung. Pitschnass und zentnerschwer trage ich an den Stücken auf meinem Leib. Ich drücke die rote Taste, lege auf, spanne das Regenverdeck über Davids Kinderwagen und danke dem örtlichen Klinikum, dass es seine Mutter gerettet hat. Allerliebste Martha, unsere Reise geht weiter. Fortan zu dritt.







Oliver Fahn wurde am 21.03.1980 in der Kreisstadt Pfaffenhofen an der Ilm im Herzen Oberbayerns geboren. Der Heilerziehungspfleger lebt dort zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Neben dem Schreiben zählt Langstreckenlauf zu seinen Leidenschaften.

Veröffentlichungen:

-Profil auf story.one (unter anderem „Schreibtisch, wann gibst du mich frei?“ und „Auf was ich warte…“)

-#kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin April 2022: „Von der Auferstehung verlorengegangener Nähe“

-Papierfresserchens MTM + Herzsprungverlag (Beitrag zu „Liebesgrüße aus Napoli“) April 2022: „Gutschein mit Folgen“

-#kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin März 2022: „Bewegter Stillstand“

-7. Bubenreuther Literaturwettbewerb Oktober 2021: „Willst du gehen und wenn ja, auf welchen Füßen?“

Interview mit Oliver Fahn HIER






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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