Patrick Langer für #kkl21 „Stigma“
Raumzeit
Bei der Geburt von Jonas Wedgesweiler schrie seine Mutter so laut, dass sich, einem vielleicht zufälligen Ungleichgewicht der Kräfte des Universums geschuldet, ein Riss auftat in der Raumzeit und sofort wieder schloss, jedoch um einen Millimeter nach Norden versetzt, möchte man nun, entbehrend jeglicher sonstiger Fixpunkte, das Erdmagnetfeld als Referenz wählen.
Der kleine Jonas war vom Zeitpunkt seiner Geburt an nun nicht dort, wo er hätte sein sollen, sondern um ein nahezu unmerkliches Stückchen verschoben. Er war ein überaus hübsches Kindchen und perfekt symmetrisch nach Menschenart gebaut und auf den ersten Blick mochte es einem kaum auffallen was an ihm derart sonderbar war. Als er das erste Mal an der Brust seiner Mutter saugte, da lief fast unmerklich ein winziges Tröpfchen Milch herab an seinem Mundwinkel, ein normales Begeben; ein Kind, das trinkt, mag verkleckern. Doch Jonas war in sich so perfekt gebaut wie kein anderes Kind und kein Tropfen wäre ihm herabgeronnen, wäre er dort, wo er hätte sein sollen.
Bei seiner Taufe lief ihm das geweihte Wasser einen Haarstrich weniger weit über die Stirn als man es erwartet hätte. Dieser Umstand fiel den Tanten und Onkeln und Grosseltern auf, die um das Taufbecken herumstanden, doch es kratzte sie nur unmerklich gefühllos, wie eine Stahlgabel auf einem Hühnchenknochen, und einen Moment später hatten sie es wieder vergessen und betrachteten das makellose Kind voller Entzücken.
Doch so perfekt der kleine Jonas geraten war, so ungeschickt stellten sich seine Taten dar. Beim Ausmalen von Vordrucken im Kindergarten malte er immer leicht daneben, er kleckerte seine Suppe hier, er ließ dort eine Gabel fallen, die er nicht fest genug packte. Gar einmal geschah es ihm, dass er die Pfeffermühle etwas versetzt packte und daraufhin sich ein Schwall Pfefferkörner in das später ungeniessbare Essen ergoss. Doch waren meist diese kleinen Verfehlungen auch seine grössten, denn die Verschiebung, die ihm anheim war, war doch sehr schmal.
Auf Photographien wirkte er immer leicht versetzt, so mancher Photograph verzweifelte gar an ihm und bat ihn sich hinter die Gruppe zu stellen, wo dann sein Kopf irgendwie merkwürdig zwischen zwei anderen herauszuwachsen schien.
Trotz einiger Schwierigkeiten in Geometrie und Schriftbild durfte Jonas bald erfolgreich seine Schulbildung beenden, mit einer «1» nach dem Komma. Trotz der verstaubten Gepflogenheiten der Schulgemeinde hatte sich dieser Sonderfall fast automatisch, wie organisch, herausgebildet.
Als er auf dem Kirchweihfest seines Dorfes eine junge Dame auf den Heuboden trug und versuchte ihren Büstenhalter zu lösen griff er stets daneben, weshalb sie dasselbige für ihn erledigte.
Sie vereinten sich in liebevoller Lust und jugendlicher Wildheit.
Ein Spermium sollte die Eizelle durchdringen, doch ein anderes, knapp daneben, tat es.
„Mein Name ist Patrick Langer und ich schreibe hin und wieder mal eine Kurzgeschichte.“
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