Nora Hille für #kkl21 „Stigma“
Stigma ist unfair und nicht zu rechtfertigen,
Stigma tut weh – und es kann sogar tödlich enden
„Jeder Mensch verdient es, respektiert und würdevoll behandelt zu werden. Egal welcher Herkunft, Hautfarbe, Religion und Sexualität. Egal welcher Identität, welchen Geschlechts, welcher politischen Einstellung etc.. Leider ist die Realität oft eine andere…“
Mit diesen Worten äußert sich meine Autoren-Kollegin Rike Sauer, die ich über Instagram kennengelernt habe, zum Tod das 25-Jährigen Malte. Als Teilnehmer an der Münsteraner Pride-Parade beim Christopher Street Day am 27. August 2022 wollte der Transmann eine angegriffene Frauengruppe mutig verteidigen. Seine Courage bezahlte Malte mit dem Leben.
Diskriminierung und Stigmatisierung finden täglich statt – und kaum jemand von uns ist dauerhaft davor geschützt. Es reicht häufig schon aus, nicht zur Mehrheit zu gehören oder vielleicht nur geringfügig von der Norm abzuweichen. Das Internet und Social Media bieten anonymen Hatern jede Menge Gelegenheit, ihre toxischen Worte zu verbreiten – eine Bühne für Dummheit, Neid, Missgunst, Verfolgung.
Zu den von Rike Sauer genannten Gruppen, die Stigmatisierung ausgesetzt sind, möchte ich folgende ergänzen (und sicher gehören noch weitere hinzu): Menschen, die optisch von der Norm abweichen, sei es durch ihr Gewicht, Hautauffälligkeiten wie Narben, starke Akne oder Feuermale, eine offensichtliche körperliche oder seelische Behinderung. Durch Armut, die sich beispielsweise in fehlender Markenkleidung zeigt – gerade unter Jugendlichen ein relevantes Thema, denn über die „Uniform“ der Marke wird Selbstwert und Gruppenzugehörigkeit generiert. Es muss aber nicht an der falschen Kleidung liegen. Kinder und Jugendliche werden in der Schule von Gleichaltrigen gemobbt – nur weil sie „irgendwie anders“ sind. Ja, er stimmt, der oft zitierte Satz: Kinder können grausam sein.
Auch ich gehöre als Mensch mit einer psychischen Erkrankung zu einer Gruppe, gegenüber derer die Gesellschaft häufig Vorurteile hat. Deswegen erfahren psychisch Kranke oftmals schmerzhafte Ablehnung und Stigmatisierung von außen. Doch dabei bleibt es nicht: Die erlebten Beschimpfung und Diskriminierungen führen dazu, dass viele Betroffene das unfaire Fremd-Urteil als gerechtfertigt ansehen, enorme Scham und tiefe Selbstablehnung entwickeln, die Vorurteile der Gesellschaft auf sich übertragen – das sogenannte Selbststigma entsteht. Eine Qual, bei der Betroffene das imaginäre Messer gegen sich selbst richten.
Neben dem Wort Selbststigma, dass mir nun seit etwa einem Jahr geläufig ist, habe ich ein weiteres Wort neu kennengelernt: Ableismus bzw. internalisierter Ableismus. Nähert man sich den Begriff von seiner ursprünglichen englischen Bedeutung „to be able“ an, so wird deutlich, dass Ableismus eine Betrachtungsweise ist, die Menschen in die beiden Kategorien „kann“ und „kann nicht“ einordnet und anhand dieser auf- oder abwertet. Die Aktion Mensch erklärt auf ihrer Homepage Ableismus folgendermaßen: „Werden Menschen im Alltag auf ihre körperliche oder psychische Behinderung reduziert, spricht man in der Fachsprache von Ableismus. […] Wenn jemand ableistisch handelt, schließt er oder sie von der Behinderung eines Menschen direkt auf seine geistigen oder körperlichen Fähigkeiten, ohne die Person dazu gefragt zu haben oder genaueres darüber zu wissen. Laut Duden handelt es sich dann um eine Abwertung dieses Menschen.“[1]
Internalisierter Ableismus – dieses Phänomen ähnelt dem von mir beschriebenen Selbststigma stark und tritt auf, wenn behinderte Menschen die Vorurteile und Diskriminierungen, die sie erleben, unbewusst verinnerlichen oder ihnen sogar bewusst zustimmen. Als Beispiel für internalisierten Ableismus zitiere ich den Berliner Inklusions-Aktivisten und Gründer der SOZIALHELDEN[2] sowie Autor des autobiografischen Buches „Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“ Raul Krauthausen:
„Der verinnerlichte Fähigkeitsgedanke (Ableismus) kann bedeuten, dass du, an der Bushaltestelle stehend, dich schämst, den Busfahrer jetzt rauszubitten, um die Rampe auszuklappen. Das wegen dir jetzt jemand einen Aufwand hat und dass man für eine Selbstverständlichkeit, weil es nun mal der Job der Busfahrerin oder des Busfahrers ist, dass man sich für diese Selbstverständlichkeit aber schämt, dass ein extra Aufwand gemacht werden muss. Das ist glaube ich auch schon Teil des verinnerlichten Ableismus.“[3]
Ich selbst habe meine psychische Erkrankung fast 25 Jahre lang verheimlicht. Aus Scham, denn auch ich erlebte Stigma. Eine schwere Stigmatisierung gegen mich wurde von meiner Mutter mehrfach hinter meinem Rücken zu meinem Bruder und dessen Frau ausgesprochen: „Das ist die Irre in unserer Familie.“ Wie hätte ich mich da wehren können, wenn die Worte mir nicht ins Gesicht geschleudert wurden? Ich wusste um sie und litt still. Meine Mutter brachte sich damit in eine komfortable Lage: Jedes kritische Wort der unbequemen Tochter musste nicht ernst genommen werden, schließlich war diese ja „verrückt“. Dass sie damit meine Intelligenz beleidigte – wie auch meine Warmherzigkeit und Menschlichkeit, ja, mich zutiefst herabwürdigte – für sie bedeutungslos. Für mich pure Ablehnung und ein Jahrzehnte andauernder Schmerz.
Fühlt Ihr, was ich gefühlt habe?
Fühlt Ihr, wie sehr es schmerzt?
Spürt Ihr sie,
die Wundmale,
die solch stigmatisierende Worte
in die dünne Haut einer Seele reißen?
Fühlt Ihr, wie sie brennen,
diese Wunden,
wie aus ihnen
das Blut herausrinnt
und damit alle Lebenskraft?
Aus meiner Facebook-Gruppe kenne ich andere Betroffene, die unfassbare Stigmatisierungen erleiden mussten. Hört, was Anna Nym* (Name geändert) zu sagen hat:
„Beruflich kam ich in jungen Jahren wegen meiner psychischen Erkrankung bei einer Reinigungsfirma mit geschütztem Hintergrund unter – also bei einem Arbeitgeber speziell für Mitarbeiter mit psychischen Beeinträchtigungen. Dort hatte ich eine Chefin, die wortwörtlich zu mir und den anderen sagte: ,Sie können froh sein, dass Sie bei mir arbeiten dürfen, denn draußen nimmt Sie eh keiner.‘ Wenn wir bei der Arbeit Fehler gemacht hatten, müssten wir alle im Büro antanzen und meine Chefin hat sich vor jeden einzelnen hingestellt und ihn gefragt: ,Wer ist der Chef?‘ Erst wenn derjenige gesagt hat: ,Sie sind die Chefin, Frau XY‘ durfte man das Büro verlassen. All das müsste ich mir über 10 Jahre hinweg anhören, was bei mir massive Suizidgedanken auslöste, die in gescheiterten Suizidversuchen gipfelten. Dass ich es nach einer so langen Zeit der übelsten Stigmatisierung geschafft habe, mir zu sagen ,ich will hier nicht vor die Hunde gehen‘ und meinen Weg raus auf den ersten Arbeitsmarkt gefunden habe, war meine Rettung. Heute arbeite ich als Alltagsbegleiterin und unterstütze andere.“
Was aber hilft, Stigmatisierung zu beenden? Unserer Gesellschaft zu zeigen, wie unfair und ungerechtfertigt diese ist?
Neben individueller Anti-Stigma-Arbeit durch Betroffene, die zumeist in einem über die eigene Diagnose aufklären durch Reden und/oder Schreiben besteht, existiert organisiertes Engagement gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker. Unter dem Dach des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit engagieren sich in Deutschland derzeit 140 Mitgliedsorganisationen für einen vorurteilsfreien und gleichberechtigten Umgang mit psychisch Erkrankten und damit gegen die Stigmatisierung Betroffener: „Das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit […] will einen gesellschaftlichen Diskurs anstoßen, durch den das bislang bestehende Tabu gebrochen wird sowie Ängste und Vorurteile abgebaut werden.“[4] Am 30. September 2021 hat zudem die WHO (World Health Organization) ein neues europäisches Bündnis für psychische Gesundheit ins Leben gerufen.[5] Und im Koalitionsvertrag 2021 kündigen die deutschen Regierungsparteien an: „Wir starten eine bundesweite Aufklärungskampagne zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen.“[6] – Noch hat die Regierung dieses Versprechen nicht eingelöst.
Es gibt weltweit so viele Menschen, die sich für die Anti-Stigma-Arbeit engagieren: Betroffene, deren Angehörige und Freunde, im Gesundheitswesen Tätige, Ehrenamtliche, Prominente, die sich „outen“, Politiker, Initiativen und Selbsthilfegruppen, Sozialarbeiter, Künstler und Kulturschaffende aller Fachrichtungen. Wir können miteinander in Kontakt treten, sogar über Landesgrenzen hinweg, gemeinsam aufklären und die Anti-Stigma-Arbeit vorantreiben.
Als besonders effektiv in der Anti-Stigma-Arbeit haben sich persönliche Kontakte zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen erwiesen. Durch sie nimmt Stigma ab und die Gesellschaft wird sensibilisiert. Hier gibt es einige Aktionen und Projekte, die diesen persönlichen Austausch fördern. Europaweit engagieren sich beispielsweise Psychologiestudenten mit dem 2013 gegründeten Projekt „Mind the Mind“, initiiert von der der EFPSA (European Federation of Psychology Students‘ Association) in bereits 19 Ländern. Gemeinsam besuchen Studierende und psychisch Erkrankte Schulen, klären über Krankheitsbilder auf und ermöglichen dabei den wichtigen persönlichen Kontakt und Diskussionen zwischen Schülern und Betroffenen.[7] Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 30.000 Schüler und Schülerinnen mit dem Projekt erreicht.[8]
Ich habe geschrieben, dass meine Mutter mich mit ihrer Aussage „das ist die Irre in der Familie“ zutiefst herabwürdigte – in dem Wort herabwürdigen verbirgt sich das Substantiv Würde. Genau das, nämlich meine Menschenwürde, entriss mir meine Mutter brutal, indem sie mich hinter meinem Rücken stigmatisierte. Dazu hatte sie kein Recht – im Gegenteil. Sie hat großes Unrecht begangen.
Im Artikel 1 unseres Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
Ich glaube an die unantastbare Würde des Menschen. Ich glaube daran, dass wir alle die Würde unserer Mitmenschen achten sollten. Andere so behandeln sollten, wie wir selbst gern behandelt werden wollen. Denn wir alle sind gleich viel wert. Vor dem Gesetz, aber auch in moralischer und ethischer Hinsicht. Bei allem, was uns trennt, was uns äußerlich zu unterscheiden scheint: Wir alle tragen ein pulsierendes Herz in unserer Brust. Wir alle haben eine unsterbliche Seele.
Wie gut, dass unser Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland immer noch von der großen demokratischen Mehrheit der Bevölkerung geachtet und getragen wird. Dass unser Rechtsstaat für dessen Einhaltung und notfalls auch Durchsetzung sorgt. Ich bin dankbar, in einer Demokratie und Gesellschaft wie der deutschen zu leben, trotz all der aktuellen Schwierigkeiten, die sich auch hier zeigen. Trotz der beunruhigenden bis gefährlichen Einflüsse verschiedener Gruppierungen, die niemals (!) Überhand gewinnen dürfen.
Wir alle müssen unsere Demokratie schützen, denn sie ist kostbar und mitunter für kurze Momente bedroht. Wir alle sollten für Menschenwürde eintreten, für Toleranz und Respekt. Für Gleichberechtigung und ein Miteinander auf Augenhöhe.
Wir alle sollten uns gegen Stigmatisierung stark machen, unseren Teil zu einer entstigmatisierten Gesellschaft beitragen. Denn Stigma ist unfair und nicht zu rechtfertigen, Stigma tut weh – und es kann sogar tödlich enden.
[1] Quelle: https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion/ableismus (Zugriff: 2. Oktober 2022).
[2] https://sozialhelden.de/ (Zugriff: 2. Oktober 2022).
[3] Podcast „Die Neue Norm“, Folge #13: Internalisierter Ableismus. Quelle: https://dieneuenorm.de/podcast/internalisierter-ableismus/ (Zugriff: 2. Oktober 2022).
[4] Quelle: https://www.seelischegesundheit.net/aktionsbuendnis/portraet/ (Zugriff: 2. Oktober 2022).
[5] WHO: „Das Europäische Bündnis für Psychische Gesundheit.“ Nur noch online via Web Cache. Quelle: https://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:CE7cRP_yzZ4J:https://www.euro.who.int/de/health-topics/health-policy/european-programme-of-work/flagship-initiatives/the-mental-health-coalition2+&cd=18&hl=de&ct=clnk&gl=de&client=firefox-b-d (Zugriff: 2. Oktober 2022).
[6] Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), S. 86.
Quelle: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1 (Zugriff: 2. Oktober 2022).
[7] Das Positionspapier von „Mind the Mind“ ist unter Facebook veröffentlicht. Quelle: https://m.facebook.com/efpsamindthemind/?locale2=de_DE (Zugriff: 2. Oktober 2022).
[8] Quelle: https://www.hw.uni-wuerzburg.de/fsi-psychologie/studentische-initiativen/mind-the-mind/ (Zugriff: 2. Oktober 2022).

Nora Hille, Jahrgang 1975, lebt in Norddeutschland, ist verheiratet, hat zwei Kinder und zwei Katzen. Studium Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften. 12 Jahre Arbeit im Bereich Kommunikation/PR. Aus gesundheitlichen Gründen verrentet. Schreibt als Betroffene und Erfahrungsexpertin zu den Themen Mental Health, psychische Erkrankungen und engagiert sich für die Anti-Stigma-Arbeit, also gegen die Stigmatisierung (Ausgrenzung) psychisch Kranker in unserer Gesellschaft für mehr Miteinander und Toleranz. Außerdem verfasst sie literarische Essays, Gedichte und Kurzprosa.
Im Herbst 2023 erscheint ihr Buch „Wenn Licht die Finsternis besiegt” bei Palomaa Publishing. Ein Mutmachbuch darüber, wie man trotz bipolarer Erkrankung – und der enormen Herausforderung, die diese tagtäglich für die innere Balance Betroffener bedeutet – ein gutes und reiches Leben gestalten kann.
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