Schöne Vernarbtheit

Martin A. Völker für #kkl21 „Stigma“




Schöne Vernarbtheit

Der Sommer ist vorbei, vielleicht sogar der Sommer deines Lebens. Höchste Zeit also, sich für den Winter zu rüsten. Der Herbst ist diese Rüstzeit. Die Früchte des Sommers werden eingebracht. Sie gehen nochmals durch deine Hände und wollen genau besehen werden. Blicke mit ihnen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Die Farben der Sommerfrüchte haben sich verändert, sind verblasst. Die Bieg- und Schmiegsamkeit der Dinge hat sich verloren, sie sind ausgehärtet. Kleine Stoßstellen, über die du in sommerlicher Ausgelassenheit hinwegsehen konntest, fallen dir nun auf. Was noch? Runzeln und Risse, Abgeschabtes und Ausgehöhltes, plötzlich Fehlendes und leider nie Dagewesenes. Bei gekapptem Wachstum besteht keine Hoffnung mehr, dass neue Erhebungen und Vertiefungen und irgendwie aufgeraute Flächen verschwinden. Lege deine Hände darauf, und du nimmst die vibrierende Erzählung erklommener Berge, durchschrittener Täler und zersplitterter Holzwege wahr. Schaue an, spüre hin und horche nach. Das bist du, wie du geworden bist. Das sind die Spuren, die auf dir hinterlassen worden sind, die du hinterlassen hast. Das sind Zeichen für jene, die auf dunklen Pfaden den hellen Weg suchen. Die Glätte der Jugend ist fort, dafür du hast die Griffigkeit des Alters gewonnen. Erkennbar wird deine Angegriffenheit, dass du überhaupt angreifbar gewesen bist. Erworben hast du wie der Baum eine tief gefurchte Hülle, die sich jetzt anbietet, wenn jemand die Hand nach dir ausstreckt und den festen Griff sucht. Vieles hast du wie der junge Lotos an dir abperlen lassen, einiges nicht. An deiner Gefurchtheit und Vernarbtheit wird viel, werden neue Erfahrungen haften bleiben. Beides sorgt dafür, dich empfänglicher zu machen für andere, die gezeichnet sind, wie für solche, die sich erdreisten, andere mutwillig zu Gezeichneten zu machen. Werfe einen Blick auf die getrocknete Mohnkapsel, welche dir die Ernte für die herbstliche Vase geschenkt hat. Auf der Mohnkapsel sitzt die gegliederte, aufgefächerte Narbenscheibe, das Stigma dieser Pflanze. Sei unbesorgt, ich werde dir keinen Vortrag über Botanik halten, obwohl du die Botanik immer im Sinn behalten solltest. Ich belasse es bei dem Hinweis, dass der Narbe oder dem Stigma eine wichtige Funktion im Blütensystem zukommt, dass das Stigma außerdem zur Schönheit der Pflanze beiträgt. Arbeite daran, die beredte Schönheit in deinen Vernarbungen zu erkennen. Zeige sie anderen, um ihnen etwas von der vergangenen wilden Schönheit deines Lebens mitzuteilen. Bunte Wimmelbilder auf der Haut tragen, das kann jede:r, das ist einfach. Die Stigmata mit Würde tragen, das ist schwer, aber lohnenswert, weil sie Lebenswahrheiten aussprechen, die dich auch im Winter frühlingshaft wachsen lassen. Nimm alle mit, die wachsen wollen.







Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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