Blaumeise

Cornelia Koepsell für #kkl21 „Stigma“




Blaumeise

Geschnappt. Eine Blaumeise. Gelb. Blau. Schwarz. Weiß. In Kiste. Mit Klappe. Schnur dran befestigt. Auf Lauer gelegt. Zack. Drin ist sie. Trippel. Trippel. In Hand genommen. Kleines Herz. Klopf. Klopf. Herrin sein. Über Vogel. Über Leben. Über Tod. Ein wenig Mitleid.

Wenn ich sie frei ließe, die Meise. Zurück in Sommer – Luft. Flatter. Flatter. Immer höher. Kleines Herz wieder ruhig. Sicher dort oben.  Nichts als Luft um sich rum. Keine Hand zum quetschen. Oder einsperren in kleinen, dunklen Kasten. Entkommen unmöglich.

Wenn ich Hand öffne und Blaumeise sich in Luft schwingt, weit, weit weg, bleibe ich allein. Ohne Gefangene, angewiesen auf mich, ganz und gar. Ich will fliegen und kann nicht. Kleiner Vogel hat mir alles voraus. Wichtigste Fähigkeit. Fliegen.

Es gibt keinen Gott auch wenn Papa Gegenteil behauptet. Wenn er existierte, Allmächtiger, wäre ich als Adler auf Welt gekommen, um mich in Lüfte zu schwingen. Hoch. Hoch. Kreisen über winzig kleinen blöden Menschlein, die nicht zu leben verstehen.

Nur bei Kindern anders. Bald auch das aus. Je länger sie in  Schulen gehen, wo Lehrer sitzen mit Rohrstöcken in Pult und verlorenen Schlachten in Blut.

Gott, wenn es gäbe, hätte Einsehen, mir Flügel gegeben zum in Wolken steigen, immer dann wenn auf Erden nicht zum aushalten.

Die Großen. Sprechen von Notwendigkeiten. Boden der Tatsachen. Draufstellen. Allmählich  erwachsen. Kein Kind mehr, dem man einiges durchgehen lasse.

Wird schlimmer mit mir. Wachsen geht nicht zum aufhalten. Hab versucht. Brustkasten stundenlang in Schule gegen Tischkante gepresst. Damit Busen nicht wächst. Will keinen. Hindert mich. Beim Fliegen.

Bald werden Eltern mir Lehrstelle suchen.

„Ins Büro. Das ist was Ordentliches“, sagen sie. Aus  fünf höchstens sechs Stunden Schul – Kerker werden acht. Mindestens. Briefe tippen mit Durchschlag. Schraubensorten im Takt. Eltern haben kleine Metallfabrik um Ecke in Auge.

Kann Blaumeise nicht loslassen. Nein. Das gönn ich der nicht. So viel Freiheit. Über Bäume. Hinein in blauen Himmel. Und weg. Setz sie zurück in  Kasten.

„Das ist Büro“, sage ich. „Jetzt tipp mal!“

Vogel fiept. Jämmerlich. Nehm ihn raus. Öffne Hand. Hab`s nicht gewollt. Ist passiert. Blaumeise  benommen. Bleibt sitzen.

„Flieg endlich“, rufe ich und werfe in Luft. Flattert. Ist verschwunden.

„Lieber Gott“, bete ich. „Wenn es dich gibt, und wenn du nicht dummer alter Mann bist, dann lass mich endlich frei sein.“

Beim Abendessen sagt Papa.

„Es hat geklappt. Du bekommst die Lehrstelle.  Freust du dich?“

„Ja klar“, antworte ich.

Nachts Traum. Vom fliegen. Bei jedem Schritt erhebe ich mich. Hoch. Hoch. Komme  wieder runter. Berühre Boden mit anderem Bein. Und nochmal. Hoch. Hoch.

„Gott“, schreie ich. „Es gibt dich ja doch. Ich habe dir Unrecht getan.“

Springe erneut. Weit über Pappeln in Garten.

„Gott“, schreie ich nochmal. „Wenn es so weiter geht, komm ich auf Besuch.“

Papa weckt mich.

„Was ist mit dir, Kind?“ fragt er. „Du hast im Traum nach Gott gerufen.“

„Keine Ahnung“, sage ich.

„Schlaf jetzt“.

Schöner Traum weg. Krieg ihn nicht wieder.

In Schule sollen wir Aufsatz schreiben. Über Mensch und Natur.

„Tiere sind Menschen überlegen“, schreibe ich. „Können fliegen, unter Wasser schwimmen, durch Kiemen atmen, als Hunde viel besser hören und riechen. Als Adler besser sehen. Entdeckt jede Maus von weit oben. Irgendwann – lange wird nicht mehr dauern – werden Tiere Macht ergreifen.“

Bekomme Sechs. Lehrer sagt, es sei gut, dass ich Ende von Schuljahr abgehe. Weiterführende Schule nichts für mich.

Nächster Tag liegt tote Ratte in Pult. Er gibt mir Schuld. Haut mir eine runter. Wegen Flausen. Austreiben. Mir egal. Hauptsache Rache. Bisschen wie fliegen. Nicht ganz so schön. Aber trotzdem.

Nachts wach liegen. Nehme mir vor. Fest. Fest. Irgendwann werd ich fliegen. Wie im Traum. Egal wie lang dauert. Andere Mädchen planen Heirat. Kinder kriegen. Familie und so. Darf mich mit sowas nicht aufhalten. Energie bündeln. Nichts anderes denken. Werde es schaffen. Irgendwann.

Will Vögel nachmachen. Sie wandern. Im Winter. Bis Afrika. Sind nicht sesshaft wie Menschen. Fliegen tausende Kilometer. Finden allein zurück. Ohne Landkarte. Oder Unterricht in Erdkunde.

Erzähle es Lehrherrn. Der staunt.

„Hab ich gar nicht gewusst“, sagt er.

Erwachsener, wo zugibt, das nicht allwissend. Staune auch.

Lehre nicht so schlimm. Langweilig schon. Aber geht. Viel Zeit zum in Luft gucken. Fliegen im Kopf.

Schreibe Zehn – Finger – System auf Olivetti. Neuestes Modell. Ganzer Stolz von Lehrherrn.

Er mag mich. Lobt. Viel. Oft. Irgendwie komisch.

„Du bist was ganz Besonderes“, sagt er.

Sehe ihn an. Schweige.

„Schau mich nicht so an“, sagt er.

Da tippe ich. So schnell es geht. Senke Kopf. Tief. Tief.

Lehrherr hat Fernrohr. Zeigt es mir. Will Vögel beobachten. In Bucht. Wo sie sich vollfressen. Kraft sammeln für Flug in Süden. Ob ich mitkomme.

„Ja“, sage ich.

Wir liegen im Gras. Ein Lüftchen. Oder war es Hand, die Fernrohr reicht. Sie zittert. Ich greife danach. Nicht nach Fernrohr. Nach Hand.

Da passiert es. Wovon alle reden. Heimlich. Musste so sein. Ist wie fliegen. Ganz weit oben. In Wolken. Meine Augen offen. Schauen herunter. Sehen nichts. Bis wieder klar werden. Langsam. Und Blaumeise erkennen. Sitzt auf Ast.

„Nenn mich Hartmut“, sagt Lehrherr.

„Geht klar“, antworte ich.

Viele Sonntage gehen wir in Bucht. Vögel beobachten. Bis mir übel wird. Jeden Morgen. Bauch wird rund. Kriege Junges.

Lehrherr Hartmut will heiraten.

„Das Kind braucht einen Namen“, sagt er.

Habe Angst. Vielleicht vorbei mit fliegen. Wegen Familie und so.

„Wenn Vögel Junge kriegen“, sagt Hartmut, „tun sie alles für ihren Nachwuchs. Das weißt du doch.“

„Stimmt“, antworte ich.

Lasse mich beringen.

Eltern glücklich. Gute Partie. Wer hätte gedacht.

„Der hat was an die Füß“, sagt Mama.

„Kein Dahergelaufener“, sagt Papa. „Und anständig. Lässt die Deern nicht sitzen mit dem dicken Bauch.“

„Ja, ja, schon gut“, sage ich.

Weiß nicht so recht.  Wollte fliegen. Bin gelandet.





Cornelia Koepsell

Jahrgang 1955

literarisches Schreiben seit 2002

über 100 Einzelveröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien

Auszeichnungen: 3. Preis des Schwäbischen Literaturpreises 2011

3. Preis Frauen Literaturpreis 2014

3. Preis Berner Bücherwochen 2015

3. Preis Frauen Literaturpreis 2016 (Theaterstück)

1. Preis Kunsthaus Lisa 2021

Publikationsliste

Debütroman „Das Buch Emma“ , September 2013

Geest Verlag, ISBN 978-3-86685-409-3

Roman „Lauf weg wenn du kannst“ Juli 2017, Geest Verlag ISBN 978-3-86685-6097

Interview mit Cornelia Koepsell HIER






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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