Birgit Palasser für #kkl21 „Stigma“
Ungehört
Es zog bereits der Morgennebel über den See, es fröstelte sie und dennoch stand ihr nächster Schritt fest. Ihre Dirndlbluse und die Schürze waren verdreckt und ihre blonden Zöpfe hatten sich fast aufgelöst. Sie saß bereits einige Stunden, die halbe Nacht, am alten Holzsteg, am See, in dem Dorf, in dem sie ihre gesamte Kindheit und Jugend verbracht hatte. Ihre Verzweiflung hatte sich nicht gelegt, ihre Augen schmerzten von den Tränen, und ihr Kopf dröhnte, es war kein klarer Gedanke zu fassen.
Dabei hatte der gestrige Tag so gut begonnen, sie hatte dienstfrei gehabt und es gewagt, wieder mal in das Strandbad zu gehen. Ihre Mutter hatte es ihr erlaubt, eigentlich heimlich, denn Vater war nicht da, er war schon in der Früh zum Arzt gefahren und erst am späten Nachmittag zurückgekehrt. Mißmutig wie immer.
Und dann der Anruf, dass sie nun doch an ihrem freien Tag zur Arbeit musste. Sie hatte ihr Dirndl frisch gebügelt und sich in aller Ruhe die Zöpfe geflochten, das mochten die Gäste und ließen hin und wieder ein paar Münzen mehr als Trinkgeld springen. Nun arbeitete sie schon seit drei Jahren im Strandhotel, einem der angesagtesten Hotels am See, direkt am See, erste Reihe Strandpromenade.
Und es war vom ersten Tag an schrecklich. Aber wer glaubte ihr? Niemand hörte ihr zu. Schon gar nicht ihr Vater. Der meinte, sie soll sich nicht so aufführen und zu den Gästen freundlich sein. Das sind bessere Menschen, die haben es im Leben geschafft, waren reich, weltgereist und wussten schon, wie man sich in ihren Kreisen zu benehmen hatte. Von ihnen könne sie lernen und sie soll froh sein, überhaupt einen Job in diesen Zeiten gefunden zu haben. Lang genug hatte er den Hotelbesitzer gebeten, seine Älteste doch als Servierkraft aufzunehmen – dafür lieferte er auch die Würste und den Käse direkt ins Hotel, ohne was zu verrechnen. Aber das Mädel brauchte eine Arbeit, auch sie musste sich selbst erhalten, er könne sie ja nicht ewig durchfüttern.
Die Blicke so mancher Gäste waren ihr verhasst. Immer, aber auch immer sahen sie auf ihren Blusenausschnitt; sie musste dieses Dirndl tragen. Und dieser eine Gast aus der Stadt, der fast jedes Wochenende da war, der sich nur von ihr bedienen lassen wollte, mit seinen Blicken, mit seinen Worten – die Gedanken an ihn ließen sie laut aufschluchzen. Und er war nicht der einzige.
Alle wussten es und dennoch glaubte ihr niemand, vor allem nicht ihre Eltern. Und sonst konnte sie keinem davon erzählen, sie würde ihre Arbeit verlieren. Der Chef ließ sie der Reihe nach Spätdienst machen, auch wenn das nicht erlaubt war, aber da hielten sie alle zusammen. Alle zusammen, gegen sie. Das Zimmer stank nach Zigarettenrauch, sie spielten Karten und die Stimmung unter den Männern, mit ihren Whiskeygläsern in der Hand, war immer ausgelassen, laut und ihre Gesprächsthemen für sie unverständlich. Für sie selbst hatten sie schmierige Worte, sie fühlte sich durch ihre Blicke wie nackt und grapschen war noch das harmloseste. Sie solle nicht so unfreundlich schauen, ein bisschen mehr lächeln und sie werden ihr schon das Leben versüßen. Schaudern lief über ihren Rücken.
Sie konnte nicht mehr. Es krampfte ihr den Magen zusammen, es nahm ihr den Atem. Ihr Puls beschleunigte, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Es war genug. Das war nicht das Leben, das sie sich vorgestellt hatte. Was hatte sie zu erwarten? Würde sich jemals etwas ändern, wenn sie es nicht selbst in die Hand nähme? Wie viele Nächte hatte sie darüber nachgedacht, aber sie fand nur eine Lösung, immer wieder nur die eine. In ihrer Verzweiflung konnte nur sie selbst dem ein Ende setzen. Auch wenn sie damit ihre Familie in Verruf brachte. Das Gerede und die Scham.
Gewissheit
Langsam verzogen sich die Nebelschwaden, es begann zu dämmern und plötzlich war ihr Mut so groß wie noch nie, ihre Gedanken hellten sich auf, sie war für den Schritt bereit, das nun endlich zu beenden, was sie die letzten Jahre täglich verzweifeln ließ, was ihr die Lebensfreude raubte.
Das halbe Dorf hatte sich am Holzsteg eingefunden und entlang der Strandpromenade hörte man ihren Namen, jetzt plötzlich, erinnerten sie sich an ihren Namen, jetzt riefen sie ihn laut. Die nasse, rosa Dirndlschürze hatte sich im Schilf verfangen, aber sonst – keine Spur. Da stand der Vater am Steg, seine Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben, unfassbar, was sie seiner Familie antat. Genauso eine war sie, sie hatte immer nur an sich gedacht. Auch mit ihrem letzten Schritt. Die Dorfleute werden ihn schief ansehen, hinter ihm tuscheln und mit dem Finger auf ihn zeigen.
»Wien Hauptbahnhof. Bitte alle aussteigen!«, waren die ersten Worte, die sie wahrnahm, als sie sich aus den orangeroten Polstersitzen erhob. Sie schnappte sich ihren kleinen braunen Lederkoffer und blickte auf den Bahnsteig. Sie hörte das Gemurmel der vielen Menschen, nahm die schnellen Bewegungen wahr und sie atmete tief ein. So also roch die Stadt.
Als sie den Bahnhof verließ und noch kurz überlegte, in welche Richtung sie gehen sollte, richtete sie sich auf, straffte ihre Schultern, schloss die Augen und ließ die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht tanzen. Sie lächelte befreit und schüttelte ihren Kopf, er fühlte sich leicht an – die Zöpfe hatte Marie im Zug abgeschnitten.
Birgit Palasser, 1969 in Klagenfurt geboren, lebt als Autorin und Ghostwriterin in Wien. Nach dreißig Jahren in der Finanzdienstwelt studiert sie Europäische Ethnologie an der Universität Wien und steigt in die Welt der Autor:innen um. Als Ghostwriterin unterstützt sie Menschen auf dem Weg zum eigenen Buch.
Weinet nicht, laßt mich ziehen ist als Roman ihr Erstlingswerk. Ein Roman über Aufbruch, Sehnsucht und Verlust.
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