sara reichelt für #kkl21 „Stigma“
Spuren
Mehrmals wöchentlich verbringe ich circa eine Stunde mit ihr und auf ihr, manchmal auch etwas länger. Das hängt von der Tageszeit ab, vom Wochentag, von meiner Stimmung und von anderem. Sie zieht mich an. Ich bin ihr verfallen.
Es gibt keine Alternative, jedenfalls keine bessere, was dazu führt, dass ich sie immer genauer kennenlerne: ihre Form, ihre Kurven, ihre Oberfläche mit kleineren und größeren Unebenheiten, mit den Spuren, die die anderen auf ihr hinterlassen haben. Natürlich bin ich nicht die Einzige, nicht der Einzige. Wir befinden uns im Jahr 2022 in einem modernen Land oder etwa nicht?
Zurück zu den Spuren: Es ist manchmal wirklich zum Verrücktwerden, was von den Vorgängern und Vorgängerinnen auf ihr zurückbleibt. Als ob sie keinen Anstand hätten! Als ob jeder oder jede davon ausginge, er oder sie wäre allein auf ihr! Da heißt es, blitzschnell reagieren und möglichst geschickt ausweichen. In der Regel sind wir zu vielen auf ihr. Wie das geht? Wie soll das schon gehen! Obwohl es meistens sogar ganz gut geht. Wir lassen uns gegenseitig Platz, kündigen geplante Positionswechsel im Normalfall gegenseitig an, damit wir uns nicht von ihr herunterschubsen. Wenn das passiert, sind alle Unbeteiligten ziemlich verärgert, weil sie dann eine Fahrbahn oder gar mehrere von ihr meiden müssen und sich auf dem verbliebenen Platz mehr denn je ins Gehege kommen. Genauso unangenehm wie der direkte, ungewollte Kontakt mit den anderen auf ihr ist ihr Schönheitstick. Manchmal unterzieht sie sich tage- bis wochenlang aufwendigen Prozeduren, um ihr Outfit zu verbessern. Na ja, jeder hat so seine Problemzonen, aber immer wieder diese Phasen, in denen sie in gewissen Bereichen gänzlich unantastbar ist. Muss das denn sein? Ich käme auf ihr auch zurecht, wenn sie noch mehr Macken hätte.
Wie bereits am Anfang erwähnt, führt mich kein Weg an ihr vorbei. Es hat schon etwas mit Leidenschaft zu tun, wie heftig ich mich manchmal auf die A3 stürze. Und mit welchem Tempo erst!
Que(e)r
Waidwund lag sie da
nach meiner Behandlung
mit spitzen Fingernägeln.
„Nun ist Schonzeit“,
sagte sie und kleidete sich an.
Es war vollbracht.
Neunundvierzig Tage brauchte die Seele,
um ihren neuen Weg zu finden.
Sieben mal sieben Kratzer spurten ihren Rücken.
Ihr Körper war nun ihr Körper:
„Komm Liebste,
lass uns tanzen
quer durch die Narben!“
sara reichelt (geb. 1964 in Nürnberg) hat zwei Hochschulstudien abgeschlossen (Psychologie; Judaistik u. Vergleichende Religionswissenschaft) und liest/spricht/schreibt mehrere Fremdsprachen. Parallel zu ihren Berufstätigkeiten als Beraterin und Dozentin veröffentlicht sie seit 1986 ihre literarischen Texte in Literaturzeitschriften, Anthologien und als Bücher. Zudem veranstaltet sie Lesungen, bevorzugt im Kontext von Kunst. 2014 hat sie ihren Hauptwohnsitz von Köln nach Berlin verlegt, wo sie als freie Schriftstellerin lebt und Deutsch als Fremdsprache unterrichtet.
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