Unterschiede

André Hénocque  für #kkl21 „Stigma“




Unterschiede

Die Frau schrie vor Schmerz. In ihrem Gesicht traten die Schläfenadern hervor, wenn

sie ihren Körper anspannte. „Jetzt, pressen!“ Seit Stunden dieselben Worte. Sie bemühte

sich wirklich das Kind zur Welt zu bringen. Sie hasste die Hebamme, die sie immer

wieder aufforderte mitzuwirken. Verdammt! Das tat sie doch. Das Balg wollte einfach

nicht raus! Dann, ein letzter Versuch. Und wirklich: geschafft. Das Kind war da. Die

Frau war müde, unendlich müde. „ Und?“ Das war das Einzige, was sie sagen konnte.

„Er ist einer von uns“. Die Frau schloss die Augen und presste die Lippen zusammen.

„Hier ist er“. Wenige Augenblicke später legte man ihr das fest gewickelte Kind auf

die Brust. Nur der kleine Kopf mit den dunkelblauen Augen schaute heraus. Die Frau

seufzte und half dem Säugling ihre Brustwarze zu finden.

„Warum mögen die uns nicht?“. Der Junge schaute seine Mutter an und erwartete ihre

Antwort. „Wir sind anders. Das können die Dorfbewohner nicht verstehen. Sie sind

eben dumm“. „ Das sagst du mir jedes Mal. Wieso sind wir anders?“. Der Junge

stampfte mit dem Fuß auf. „ Wir leben abseits vom Dorf und sind eine feste

Gemeinschaft mit unserer eigenen Art. Und nun lass mich in Ruhe. Geh‘ und hole

Holz aus dem Wald“. Die Mutter drehte sich um und ging zum Tisch. Ihr Sohn blieb

noch einen Augenblick unschlüssig stehen, dann ging er hinaus und schlug den Weg

in den nahen Wald ein. Die Gemeinschaft hatte die Erlaubnis in einem kleinen Teil

des Gemeindewaldes Holz für den Eigenbedarf zu schlagen und zu sammeln. Das

weitaus größere Teilstück war den Dorfbewohnern vorbehalten. Das Betreten des

jeweiligen Gebietes der anderen war streng verboten und wurde genau eingehalten.

Der Junge hatte bereits eine stattliche Menge an trockenem Bruchholz gesammelt, da

hörte er eine Mädchenstimme, die ein Kinderlied sang. Neugierig schlich er sich näher

heran. Ein blondes Mädchen, etwa in seinem Alter, pflückte Blumen und trällerte eine

bekannte Weise. Ihr Haar glänzte in der Sonne. Anscheinend hatte sie nicht darauf

geachtet wo sie genau war und hatte den Bereich der anderen betreten. Der Junge konnte

nicht widerstehen: er strich ihr über den Kopf. Sie fuhr herum. Panik verzerrte ihr

Gesicht. Sie stand auf und lief schreiend davon.“Papa! Die Missgeburt hat mich

angefasst!“. Der Vater tauchte auf und nur durch eine schnelle Flucht konnte

der Junge entkommen.

„ Wieso bin ich eine Missgeburt? Ich habe mir unsere Leute genau angesehen. Wir

sind nicht anders. Wir gleichen uns so wie wir den Dorfbewohnern gleichen. Wir gehen

aufrecht, wir essen und trinken, wir arbeiten…“ „ Ist ja gut.“ Die Mutter sah ihren

Sprössling mitleidig an. „Ich will in die Stadt und einen Beruf erlernen. Morgen packe

ich meine Sachen und  verlasse die Gemeinschaft“. Die Mutter war bleich geworden.

„ Sie werden dich nicht haben wollen und wegjagen oder sogar festnehmen und

verurteilen, vielleicht sogar aufhängen“. „ Ich will es trotzdem versuchen. Sie werden

mich doch nicht gleich umbringen“. Er umarmte seine Mutter. „Gut“ sagte sie. „Morgen

sieht die Welt anders aus. Ich bereite dir erst einen Kräutertee zu, der wird dich stärken.

Setze dich an den Tisch“. Das dampfende Getränk schmeckte in der Tat angenehm süß

und eine ungewohnte Müdigkeit ließ den Kopf des Jungen auf den Tisch sinken.

Am nächsten Morgen wachte er auf als die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Er

lag im Bett. Seine Hände waren bandagiert und er konnte die Finger nicht bewegen.

„Was ist passiert? Was ist mit meinen Händen?“. „ In wenigen Tagen wirst du gesund

sein und wirst deine Reise in die Stadt antreten können. Du bist jetzt einer von ihnen“.

Verständnislos schaute der Junge seine Mutter an. Sie streichelte zärtlich sein Gesicht.

Die Berührung ihrer 12 Finger war hatte etwas Beruhigendes.       




André Hénocque 

Geb. 29.08.1948 in Hagen/Westf. , Verh. , 3 Kinder, 5 Enkel

Rentner, früher Industriekaufmann

Publiziert :  2021 –  1 Kurzgeschichte

                                1 Gedicht

                    2022    6 Kurzgeschichten

                                1 Haiku 






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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