Dröhnen

Raven E. Dietzel für #kkl21 „Stigma“




Dröhnen

Es war schwer, mit dem Dröhnen im Kopf die Musik zu hören, die aus dem Salon drang. Vier junge Stimmen baten dort um Frieden, ihr Bruder Setic am Klavier spielte die fünfte. Baten Gott um Frieden.

Sie selbst saß still auf einem Polster in der Lounge und war sich sicher, dass keiner der Choristen an ihn glaubte – ganz gleich, ob Gott oder Frieden. Sie glaubten jedenfalls nicht so, wie Mendelson an Gott geglaubt haben musste, als er das Stück komponiert hatte. Aber in diesem Moment fühlten sich die fünf ihm wohl trotzdem nahe.

Sie war aus diesem Kreis geflohen und hätte nicht sagen können, warum. Vielleicht wollte sie sich Gott nicht nahe fühlen; es bestünde wohl zu große Gefahr, dass er aufmerksam würde…

An Gottes Stelle wäre sie schon längst auf jemanden aufmerksam geworden, der sie je nach Stimmung anflehte, leugnete oder kleinredete. Auf jemanden, der nicht einig mit sich selber wurde, ob er Gnade oder Verdammung verdiente, ob er weitaus besser oder weitaus schlechter als die meisten Menschen war. Auch jemand, der über zwei Sternschnuppen über der nächtlichen Nordsee in Tränen ausbrach, weil er dies als Zeichen sah, der schwor die Chance zu nutzen – nur um am nächsten Tag wieder dem alten selbstmitleidigen Trott zu verfallen.

Es war nicht so, dass sie nicht besserungswillig war. Inzwischen war zehn Monate her, dass sie tief genug gefallen war, um wahrzunehmen, wie sie viele Jahre lang mit jeder einzelnen kleinen unangenehmen Situation umgegangen war.

Seit sie das letzten Winter plötzlich verstanden hatte, hielt sie durch. Manchmal stolperte sie, war schon gestrauchelt aber noch nicht wieder gefallen. Das durfte sie auch nicht. Denn wenn sie ein Mal nicht widerstand, wäre das der Beweis, dass es immer wieder kommen konnte – und dann käme es immer wieder.

Wie groß seit ihrer Einsicht ihr Mitleid mit Menschen war, die süchtig waren, ganz gleich wonach. Ihrer eigenen klitzekleinen Sucht zu widerstehen erschien ihr fast unmöglich. Dabei waren es nur ein paar Hormone, die ihr Körper ausschüttete, wenn sie… Doch sie tat das nicht mehr, hielt ihre Hände still, notfalls fest. Jetzt in der Lounge des Hotels zog sie das Gummiband, das sie seit ein paar Tagen wieder um ein Handgelenk trug, wie eine Fessel um beide. Oder wie ein Sicherungsseil? In beiden Fällen nicht schwerer zu zerreißen als eine Spinnwebe, angesichts ihrer schier übermächtigen Wut auf sich selbst.

Sie hatte sich an das Gefühl nie gewöhnt, dafür war es zu weit weg vom Normalen, sie selbst so wenig sie selbst; so sehr nur dieses Wüten, das sich Raum machen wollte, reagieren, agieren, egal was es kostete, nur raus.

Als sie merkte, dass sie ihre Tränen nicht mit den Augenlidern festhalten konnte, stand sie auf. Das Gesicht vom Empfangstresen abgewandt und halb zusammengekrümmt lief sie durch die Lounge auf den Fahrstuhl zu. Sie spürte eine unendliche Sekunde lang den Blick der Hotelmitarbeiter in ihrem Rücken. Dann öffneten sich die silbernen Türen und sie konnte fliehen.

In der dämmrigen Kabine begegnete ihr ein hasserfüllter Blick, aus einem Gesicht, das sie feist und hässlich fand. Sie schlug unwillkürlich die Unterarme über ihre heißen Schläfen, die Handgelenke kreuzten sich über der Schädelplatte. Während der Seilzug sie in die Höhe trug, starrte sie vor dem Spiegel zu Boden.

Als sie endlich im Zimmer war, entwich ihr ein Wutschrei, dünn und unvollständig, wie durch ein kaum geöffnetes Ventil, war eher ein Ächzen, gehört werden durfte er nicht. Die Lust war so groß, sich mit der Faust immer wieder auf die Stelle über dem Ohr zu schlagen. Sie konnte nicht umhin, sich das dumpfe, übermächtige Trommeln direkt auf dem Gehörnerv herbeizusehnen, das für den Moment lauter wäre, als die widerhallenden Unterstellungen in ihrem Kopf. Auch den Stoß, den mechanischen, der ihr jeder einzelne den Nacken rucken ließ und ein weißer Blitz in den Augen war, auch den wünschte sie sich, und den Geschmack der Luft, der in Rage wie Eisen war. Alle Sinne zu, als hätte sie für einen kurzen Moment den Sprung in eine andere Welt gewagt, eine Dimension, die zu nichts gut war, als sie vor der ausweglosen Situation zu verbergen. Es wären wohl nur Sekunden – sie hätte in dem Moment keine Zeitwahrnehmung. Jedenfalls wäre sie aus der Gedankenlosigkeit aufgetaucht, sobald der Schmerz ihr von der Schädeldecke ins Bewusstsein gesickert wäre. Dann ginge es ihr für einen Moment wie an einem Katermorgen, alles sah ein klein wenig heller aus als sonst, und drehte sich zwar nicht mehr, schwamm aber ein bisschen. Es blieben keine Spuren, bis auf zerzauste Haare, die sie direkt im Anschluss glattkämmen würde. In den nächsten Tagen würde sie die Borsten der Bürste rechts stärker auf der Kopfhaut spüren und sie würde auf der Zugfahrt am Sonntag Schwierigkeiten haben, sich am Fenster anzulehnen. Das würde sie an den Kontrollverlust erinnern. Natürlich würde sie sich schämen, vor sich selbst, vor niemand anderem, denn sie wäre ihr einziger Zeuge. Doch außerdem wäre da auch ein Teil in ihr, dem Genugtuung widerfahren wäre, und dieser Teil wäre die Wut.

Aber sie gab ihr nicht nach. Hielt sie aus. Nur geradeso, sie war kurz davor und sehnte sich danach, zu schwach zu sein, um gegen sich selbst standzuhalten, doch sie tat es. Allein auf ihrem Bett lenkte sie im letzten Moment um, griff ein Kissen, fühlte sich hilflos wie ein Kind, als sie es auf die Matratze schleuderte. Die Federn in deren Kern gaben ein metallisches Klingen von sich, wie ein unsauber angeschlagenes Musikinstrument.

Wenn sie gefragt wurde, warum sie das Gummiband trug, schüttelte sie stets den Kopf und winkte ab. Es gab nur einen Menschen, der wussten, was es bedeutet – es zumindest einmal gewusst hatte, weil vor seinen Augen letzten Winter ihre Maske zerbrochen war. Sie hatte Setic in jener Nacht versprechen müssen, seiner kleinen Schwester nicht wieder weh zu tun. Doch sie war sich nicht sicher, ob er verstand, was es hieß dass sie durchmachte, wenn plötzlich wieder das Bändchen auftauchte. Er sagte nie etwas. Sie fragte sich, ob aus Rücksicht oder Geringschätzung; oder ob er es nicht bemerkte; oder ob er es irgendwie wohl sagte, und sie das nicht bemerkte. Da war er wie Gott: Ließ sie allein mit ihrem übermächtigen, lächerlich kleinen Leiden.

Sie war sich nicht sicher, ob das Dröhnen in ihrem Ohr ein Ersatzgeräusch ihres Gehirns für die Stille war, oder das Rauschen ihres eigenen Blutes. Als sie zum Fenster trat und es auf Kipp stellte, um kühle Luft zu atmen, mischte es sich mit einem fröhlichen A Capella, das durch den Hotelhof hallte. Obwohl – ein bisschen Wehmut lag auch darin.

Vielleicht lag die auch nur in ihr selbst, dass sie das Traurige in jeder Musik hörte. Oder lag sie in den Herzen von Setic und ihren Urlaubsbekanntschaften, dass sie ein fröhliches Stück traurig singen konnten? Es fiel schwer, das zu entscheiden. Die meisten Menschen trugen ihre Gummibändchen nunmal nicht sichtbar. Bei manchen sah man Narben, doch nie verlor einer darüber ein Wort. Vielleicht gehörte Selbstbewusstsein dazu, die alten weißen Striche auf den Armen, beiden Armen von den Handgelenken bis über die Ellenbogen, offen zur Schau zu tragen. Andererseits hatten die einmal so tief Gefallenen gar nicht die Wahl: Ihr Kontrollverlust war für die Welt sichtbar und würde immer sichtbar bleiben.

Da war sie klüger gewesen – das Dröhnen in ihrem rechten Ohr sah niemand. Selbst wenn sie aus irgendeinem Grund zugeben musste, dass sie dort schlecht hörte, zog doch niemand den Schluss zu ihrer eigenen Hand. Ein kleines Gummibändchen von Zeit zu Zeit war als Hinweis zu abstrakt.

Vielleicht war sie auch dümmer gewesen. Nur weil die Narben niemand sah, war ihr Ursprung deshalb nicht fort. In ihren Kopf eingeschlossen blieb der Hass auf sich selbst, und damit der Drang, sich das eigene Sein einfach auszuprügeln, und damit die Sucht. Ihr widerstehen musste sie alleine. An dem Tag, an dem sie es nicht mehr tat, würde niemand das bemerken. Das Dröhnen in ihrem Kopf blieb. Die Musik spielte woanders.




Raven E. Dietzel (*1995 in Lippe, wohnhaft in Erfurt) schreibt Lyrik und Prosa diverser Gattungen und Genres. Studium der Philosophie, Germanistik und Linguistik, erst in Bielefeld, gegenwärtig in Erfurt. Seit 2013 rund dreißig literarische Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften, aber auch im Lippischen Wald und auf Dortmunder Fensterscheiben. RED schreibt aus der Lebensrealität einer jungen Frau heraus und mit dem fachlichen Hintergrund einer Geisteswissenschaftlerin – politisch, emotional, philosophisch. Weil sie davon allein nicht leben kann, zeigt sie Touristen die Altstadt oder trägt dazu bei, dass die Post in der Region Erfurt in den Richtigen Händen landet. Mehr auf redietzel.de

Interview mit Raven E. Dietzel und Jens Faber-Neuling von #kkl hier.







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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