Stempel: psychisch labil

Sophie für #kkl21 „Stigma“




Stempel: psychisch labil

Ich habe eine psychische Erkrankung.

Und ich bin trotzdem ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft.

Es herrschen so viele wirre Vorstellungen davon, wie es ist, eine bestimmte psychische Erkrankung zu haben. Viele scheinen sich Personen weit ab von der „gesellschaftlichen Mitte“ vorzustellen. Dabei ist belegt, dass durchschnittlich jede:r Vierte in Deutschland mit einer psychischen Erkrankung lebt. Psychische Erkrankungen sind somit keineswegs ein seltenes Phänomen. Auch der Mythos der Therapie-Couch hält sich. Durch die Pandemie sind psychische Erkrankungen wie Depression und Essstörungen verstärkt in den medialen Fokus gerückt. Aufklärung über Krankheitsbilder und über Behandlungsmöglichkeiten sind wichtig. Was mich stört, ist die Qualität der Beiträge. Öffentlich-rechtlichen Sender haben Beiträge über Depression erstellt, die Depression auf im Bett liegende, langsam verwahrlosende Menschen verkürzen. Es werden Stereotype für Krankheitsbilder geschaffen, die für die gesellschaftliche Akzeptanz nicht besonders förderlich sind. In den Stereotypen zu meinen Krankheitsbildern finde ich mich so gar nicht wieder. Dazu kommt, dass in den Beiträgen selbst zahlreiche Trigger verwendet werden. Niemand, der sich wirklich mit dem Krankheitsbild beschäftigt hat, nennt bei Genesungs-Geschichten von ehemals Anorexie-Erkrankten Gewicht und BMI. So frage ich mich, trotz diagnostizierter Depression einem geregelten Berufsalltag nachgehend und nun getriggert hektisch auf und ab gehend: Wer macht diese Beiträge?

In Bezug auf die Behandlung psychischer Erankungen wird häufig der Vergleich gezogen: Wer sich einen Arm bricht, geht ins Krankenhaus und lässt sich helfen – ohne sich zu schämen. Ebenso selbstverständlich sollten auch physisch Erkrankte professionelle Hilfe suchen – ohne sich zu schämen.

Ich bin auch der Meinung, dass sich physisch Erkrankte professionelle Hilfe suchen sollten. Allerdings stören mich inzwischen folgende Aspekte an dem Vergleich:

1. Die Behandlung und die Heilung von Arm und Psyche verlaufen völlig verschieden.

2. Braucht man sich wirklich nicht schämen?

Zum ersten Punkt:

Der:die Ärzt:in behandelt den gebrochenen Arm und gipst ihn ein. Die behandelte Person trägt wenig zum Behandlungserfolg bei. Bei psychischen Erkrankungen hingegen muss die behandelte Person selbst ganze Arbeit leisten. Der:die Therapeut:in gibt nur Anstöße, spiegelt und begleitet. Der eigene „Arbeitsaufwand“, um gesund zu werden, ist bei psychischen Erkrankungen sehr viel höher.

Hinzu kommt: Der Körper ist schwächer als die Psyche. Der Körper wehrt sich in der Regel nicht gegen die Heilung, sondern bringt sie durch körpereigene Mechanismen voran. Die Psyche hingegen ist stark. Sie hält an der Erkrankung fest, nährt die Sucht, und bestärkt beim Wiederholen eingefahrener Verhaltensmuster. Die Psyche kann die Heilung sabotieren.

Am Körper können Narben bleiben, die an die Verletzung erinnern. Aber ein geheilter Arm ist an der zuvor gebrochenen Stelle stärker als zuvor: Der Knochen verstärkt sich und wird robuster. Die Wahrscheinlichkeit, sich den Arm erneut an dieser Stelle zu brechen, ist dann deutlich geringer. Sicher: Es gibt psychische Erkrankungen, die vollständig geheilt werden können. Aber viele andere psychisch Erkrankte werden die Erkrankung ihr Leben lang nicht los. Psychotherapie und Medikamente können helfen, einen Umgang mit der Erkrankung zu finden. Selbstreflexion, Vermeidung von Triggern und Selbstfürsorge im Alltag sind wichtig. Dennoch bleibt meist ein wunder Punkt. Anders als beim Knochen resultiert meist keine Stärkung aus der Erkrankung, sondern eine lebenslange Anfälligkeit wieder zu erkranken bzw. rückfällig zu werden.

Die Heilung von Arm und Psyche sind deshalb meiner Meinung nach nicht vergleichbar. Aber ich bin natürlich der Ansicht, man sollte sich bei psychischen Erkrankungen genauso selbstverständlich in Behandlung begeben wie bei einem gebrochenen Arm. Es gehören Mut, Stärke und Ausdauer dazu, sich mit der eigenen Erkrankung auseinanderzusetzen. 

Nun zum zweiten Punkt:

Es gibt immer mehr öffentliche Personen, die zugeben, dass sie psychisch erkrankt sind oder waren. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Sichtbarkeit. Dennoch ermutigt MICH das nicht, ganz offen zu meiner Erkrankung zu stehen. Diese öffentlichen Personen sind „Promis“ oder sehr erfolgreiche Personen. Wenn die sich zu ihrer psychischen Erkrankung bekennen, bedeutet das für mich: Wenn ich irgendwann genug geleistet habe oder mein (öffentliches) Ansehen groß genug ist, dann kann auch ich offen über meine Erkrankung sprechen. Das geht aber wirklich erst dann, wenn ich genug erreicht habe. Die meisten erfolgreichen Personen haben selbst etwas für ihr Ansehen oder ihren Erfolg getan. Wer Bestseller-Autor:in, Sänger:in oder Schauspieler:in ist, hat etwas geleistet, dass die Öffentlichkeit honoriert. Eben dieses Ansehen oder der Erfolg trennen uns. Ich habe (noch) nichts so Bedeutendes erreicht, dass ich zu meiner Erkrankung stehen kann. Deshalb habe ich meine Krankheit noch nicht ausreichend kompensiert…und schäme mich weiter.

Meine Zurückhaltung scheint auch gerechtfertigt zu sein, denn meine Familie und auch die Familie meines Partners wissen von meiner Krankheit und sehen mich mit anderen Augen: als sensibel, als anfällig, als schutzbedürftig, als nicht-belastbar. Sie behandeln mich mit Samthandschuhen. Sie halten schlechte Nachrichten von mir fern. Sie nehmen Rücksicht. Meine Krankheit belastet die Familie. Ich empfinde Scham und Schuld. Ich will nicht anders behandelt werden. Es ist auch nicht nötig! Ich arbeite, zahle Steuern, habe einen geregelten Alltag… Aber ich behalte den Stempel: psychisch labil.

Ich weiß nicht, wie ich diesen Stempel von mir selbst abwaschen kann. Es gibt keine Möglichkeit, mich von meiner Vorgeschichte zu befreien, mich reinzuwaschen von Schuld, Krankheit und Fehlern. Ich war bereits mehrfach in Therapie und arbeite weiter an mir. Mit der Krankheit komme ich inzwischen zurecht, aber das Stigma bleibt.







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

3 Kommentare zu „Stempel: psychisch labil

  1. Liebe AutorIn
    Ich kenne diese Stempel auch allzu gut. Vielleicht kannst du versuchen, dich nicht unterkriegen zu lassen..du hast Resilienz und Werkzeuge, dich zu stärken und das tust du auch, indem du für Alle diese Geschichte geschrieben hast. Du bist nicht allein. Das stärkt doch. Danke für deinen Beitrag. Er dürfte als Mutmacher doch auch einiges leisten.

    Gefällt 1 Person

      1. Liebe Sophie,
        Ich beschäftige mich viel mit Menschen, die meisten haben Sorgen und Nöte und manchmal schlimme Probleme, auch unlösbare darunter. So kann man sich seine Herkunftsfamilie nicht umstricken, aber ich gehe beispielsweise immer auf seelische Wanderschaften und finde neue Menschen, die mir etwas bedeuten, denen ich das bedeute, was ich eben bin.
        Ich habe aus meinem Festen Freundeskreis me8ne ältesten Freunde an den Tod verloren..diese Menschen werde ich niemals ersetzen können, aber ich denke an sie und schreibe Gedichte.
        Der November Dezember sind für mich meist kratzige Monate..da muss ich mehr auf mich achten, mehr Trostpflaster einsetzen..
        Manchmal hilft auch der persönliche Notfallkoffer.,
        In dem liegen die schönsten Liebesbriefe, ein Parfum, Bilder und Fotos, Lieblingstalisman, Ne CD, Buntstifte..Seine, Muscheln, alles was für mich ne Bedeutung hat und mi h froh macht…
        Das Wichtigste jedoch ist für mich, dass ich spüre, mit Allem verbunden zu sein …das macht mir Mut.
        Vielleicht kannst du etwas damit anfangen.,ich wünsche es dir.
        Schreiben ist ohnehin das beste Ventil ..Tagebuch führen ..kreativ oder literarisch, ganz egal.

        Also nochmals beste Grüße an dich..

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