Sissy Leger-Lohr für #kkl21 „Stigma“
Lichtermeer der Hoffnung
Albert erhob sich schwerfällig von seiner Bank vor dem Haus. Die Sonne schickte sich an, am Horizont zu verschwinden und sandte ihm zum Abschied ihre schönsten Strahlen. Alberts Tagwerk war getan. Es dauerte mit der Zeit immer länger. Alles fiel ihm unendlich schwer und kostete ihn so viel Kraft.
Jetzt fehlte nur noch eines. Er stieg auf sein Rad und fuhr zum Friedhof. Dort lag seine Anna begraben, der einzige Mensch, der stets zu ihm gehalten hatte. Die Kinder waren am Ende selten zu Besuch gekommen und die letzten Jahre ganz weggeblieben.
„Du treibst sie aus dem Haus“, hatte Anna ihn regelmäßig geschimpft. „Misch dich nicht ständig in ihr Leben ein. Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen und tun, was sie für richtig halten. Wenn es schief geht, müssen sie ja auch dafür grade stehen. Du machst es, wie du meinst. Sie machen es, wie sie es für richtig halten.“
Anna hatte es oft nicht leicht mit ihm gehabt. Sie konnte häufig nicht verstehen, dass bei ihm die Arbeit an erster Stelle stand. Vor fünf Jahren war seine Anna ihm einfach weggestorben. Nur die Arbeit war Albert geblieben, aber die schaffte er mittlerweile kaum noch. Das Haus, der Garten – es gab in einem fort etwas zu pflanzen, ernten, reparieren, zu entsorgen, oder sonst was zu tun. Nie wurde er fertig.
„Ach, Anna“, jammerte er, als er an ihrem Grab stand. „Das Leben ist so anstrengend geworden. Wenn ich bloß sterben könnte, dann wäre ich wieder bei dir.“
Dann weinte er ein bisschen. Er, der früher so hart gegen sich und andere gewesen war, brach in letzter Zeit aus den nichtigsten Anlässen in Tränen aus.
Dann fing er sich wieder.
„Die Nachbarn fragen dauernd, wie ich meinen Achtzigsten feiere“, fuhr er fort. „Die verstehen nicht, dass es da nichts zu feiern gibt. Alt wird man von allein, ohne eigenes Zutun. Als ob ich je meinen Geburtstag gefeiert hätte!“
Eine Zeitlang sann er vor sich hin. Endlich murmelte er: „Nein, es ist nicht schön, als Einziger übrig zu sein. Ach, manchmal wünschte ich, der Herrgott hätte ein Einsehen und würde mich auch zu sich holen.“
Abends, wenn er Anna am Grab besuchte, dachte er darüber nach, wie sein Achtzigster wohl mit Anna zusammen verlaufen wäre.
Vielleicht kam ja der Bürgermeister vorbei, oder der Pfarrer. Verärgert schüttelte er den Kopf. Das war früher mal. Heute machte sich keiner die Mühe, einen alten Mann zu besuchen, der nichts Neues erlebte. Außerdem war Anna nicht mehr da. Er, Albert würde seinen Grundsätzen treu bleiben. Er feierte seine Geburtstage nicht. Er würde seinen 80. verbringen, wie er seine Tage sonst auch verbrachte. Allein. Wen interessierte es schon?
Dann war es so weit, und seine Vermutungen schienen sich zu erfüllen Am Morgen fand er im Briefkasten eine Karte des Bürgermeisters mit wohlgesetzten Worten und seinen besten Wünschen zum Ehrentag. Albert nickte vor sich hin. „Hab‘ ich es doch gewusst“, murmelte er vor sich hin.
Die Nachbarn gratulierten, überreichten ihm Süßigkeiten, Blumen oder Hochprozentiges und gingen weiter ihren Alltagsgeschäften nach.
Der Herr Pfarrer ließ es sich nicht nehmen, persönlich vorbeizuschauen. Er schüttelte Albert die Hand, drückte ihm mit feierlicher Geste ein Buch mit religiösem Inhalt in die Hand, sprach ein paar salbungsvolle Worte und machte sich nach etlichen Entschuldigungen auf den Weg zum nächsten Schäfchen.
Schließlich nahm Albert an, dass niemand mehr kommen würde. Er stieg auf sein Rad und fuhr zum Friedhof. Es war zwar erst früher Nachmittag, aber etwas drängte ihn dazu.
Als er zurückkam, blieb ihm vor Staunen der Mund offenstehen. Er hörte auf zu treten, gaffte verwundet und wäre fast vom Rad gestürzt. In der Hofeinfahrt, direkt vor seiner Haustüre, waren unzählige brennende Teelichter aufgebaut. Als er genauer hinsah, bemerkte er, dass sie Buchstaben bildeten. „Alles Gute zum 80.“, las er. Aus dem Haus eilte seine Tochter Hanna mit Mann, Sohn und Tochter. Hanna hielt eine Torte in der Hand, auf die mit Zuckerguss ebenfalls eine 80 gemalt war.
Sogar sein Sohn Gert war da. Er hatte eine hübsche, etwas mollige Frau mitgebracht, die er als seine Ehefrau vorstellte. Die beiden wirkten glücklich. Entgegen Alberts Prophezeiungen hatte Gert also doch die Richtige gefunden.
Alle umarmten und drückten ihn und wünschten ihm das Beste zum Geburtstag. Sogar Geschenke hatten sie dabei.
„Na sowas, na sowas“, murmelte Albert ein ums andere Mal. „Wie seid ihr bloß ins Haus gekommen?“
„Kunststück. Der Schlüssel liegt ja noch am selben Platz wie früher.“
Albert spürte, wie er schon wieder weinen musste, diesmal aber vor Freude. Und niemand schien sich daran zu stören, im Gegenteil.
Es wurde ein lauter und beschwingter Nachmittag. Hanna kochte Kaffee und deckte den Kaffeetisch im Freien. Sie aßen die ganze Torte auf. Dann packte die Frau von Gert, Marta hieß sie, Spiele aus.
Die Zeit verging wie im Flug. Im Nu war es dunkel.
Wie jeden Abend saß Albert allein in seinem braunen Ledersessel. Das Sideboard hinter ihm stand voll mit bunten Päckchen.
Gert und Hanni mit ihren Lieben waren gegangen, zurück in ihren Alltag, in ihr Leben, und hatten das fröhliche Stimmengewirr mitgenommen.
Sie hatten sich versprochen, dass sie sich wenigstens einmal im Monat sehen würden.
Albert freute sich schon darauf. Das war sein schönstes Geburtstagsgeschenk.
Obwohl das Haus wieder leer war, empfand er es jetzt anders. Es war, als hinge noch eine Ahnung von Heiterkeit und Glück in der Luft – als hätten die alten Mauern einen Teil davon aufgesogen und konserviert, den sie nun ausatmeten. Das Haus fühlte sich warm an. Heimelig. Nach Heimat.
Albert sah nach draußen. Manche der Kerzen waren bereits erloschen, einige flackerten. Ein Lichtermeer der Hoffnung.
Erneut kamen ihm die Tränen. Wieder waren es Freudentränen. Er strich sie weg.
Etwas fehlte noch.
Albert wählte einen der Blumensträuße aus, ging zum Schuppen und zerrte sein Fahrrad heraus. Er legte das prächtige Gebinde in den Fahrradkorb und fuhr zum Friedhof.
Um diese Tageszeit war er allein hier.
Albert holte sich eine der Vasen, füllte Wasser ein und steckte die Blumen hinein. Er trug sie zu Annas Grab. „Schau, Anna, ich hab‘ dir was mitgebracht“, murmelte er und deutete auf die Rosen. „Deine Lieblingsblumen. Hast sie dir verdient. Das warst doch du, die mir diese Geburtstagsfeier geschenkt hat. Die mir die Kinder geschickt hat. Du hattest recht damit. Es war ein großartiges Fest. Es ist wundervoll, am Leben zu sein und sich noch freuen zu können.“
Er sprach in Gedanken ein Vaterunser.
„Bald komm‘ ich zu dir Anna, bald. Aber jetzt noch nicht.“
Eine Weile betrachtete er den Grabstein und das Bild seiner geliebten Anna. Sie schien ihm zuzuzwinkern.
Dann drehte er sich um und schlurfte zurück zu seinem Rad. Diesmal trat er schneller in die Pedale. Er freute sich auf sein Haus. Nun kam es ihm nicht länger einsam vor. Jetzt warteten dort Erinnerungen auf ihn.
Sissy Leger-Lohr
Einige meiner Wettbewerbs-Beiträge wurden bereits veröffentlicht:
„Katzenjammer“ ist letztes Jahr im „Mein-beste-Freunde-Buch“ des Pohlmann-Verlags erschienen,
„Besondere Zeiten“ im gleichnamigen Band des Baltrum-Verlags.
Mein Beitrag „Der verlorene Sohn“ wurde im Dezember 2021 von radio kultur fm 889 gesendet. Ein weiterer meiner Beiträge wird kommenden Herbst erscheinen.
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