Frederik Durczok für #kkl21 „Stigma“
Der Teufel trägt Bahncard
Ich sitze wieder rückwärts im alten IC nach Stuttgart. Doch diesmal ist das Gefühl als würde ich fallen und die Bäume des Kraichgaus würden zu beiden Seiten emporschießen nicht bloß ein Gefühl. Und vielleicht dann ein gutes Gedicht.
Wir stürzen wirklich.
Es muss alles wahnsinnig schnell gehen. Ständig sind wir damit beschäftigt das Gleichgewicht zu halten. Es wäre leichter sich bei 300 km/h zu konzentrieren, wenn er nicht immerzu reden würde.
„Das hast du nicht erwartet, als du dich hierhin zurückgewünscht hast. Gesehnt hast, könnte man fast sagen.“
„Was soll das jetzt? Hilf mir lieber diesen Sitz hier wieder einzurasten.“
„Alte Züge geraten manchmal in brenzliche Situationen.“
Scheiben bersten. – Ich ducke mich reflexartig, bin aber sehr überrascht, dass die Splitter in völlig andere, unerwartete Richtungen fliehen. In diesem Moment rastet der Sitz wieder ein. Wenigstens das.
„Tja.“
Ich blicke erstmals in sein Gesicht. Er scheint eine skurrile Mischung aus Richard David Precht und Marilyn Manson zu sein. Ich runzele meine Stirn – wohl sehr auffällig.
„Machen wir es kurz und verzichten auf das übliche Melodram, ja? – Ich bin es.“
Dann ruckelt es zu allem noch ein wenig wie in der Bobbahn und mir wird leicht übel.
„Danke, danke. Ich habe diese Wirkung manchmal. Aber hey. Was hast du dir eigentlich gedacht? Du kannst nicht jedes Mal in den Zug steigen und ohne großes Zutun jemanden Interessantes kennen lernen.“
„Du meinst wie dich?“
„Touché. – Achtung, der Koffer.“
Auf mich fliegt ein riesiger rosa Koffer zu, eine dieser Schrankersatzmaßnahmen von gewissen Damen auf dem Wege nach Gran Canaria.
Ich kann nicht ganz ausweichen, der Schlag ist mittelschwer. Mir wird etwas schwindelig und ich taumele.
„Der kam doch von dir?!“
„Nein, ich würde niemals einen rosa Koffer kaufen. – Einfach nicht mein Stil. Bin mehr so existenzialistisch unterwegs.
Kannst du mal in der App nachsehen, wann wir ankommen sollen?“
Zu meiner Verwunderung und zu meinem großen Ärger greife ich wirklich nach dem Telephon. Halte aber inne und blicke düster über meine nicht mehr vorhandene Brille. Sofort muss ich den Fledermäusen ausweichen.
„Meinst du, die kommen aus Wu-Han? – Mein ja nur, du bist doch der, der Chinesen gegenüber offener ist als ganz redlichen schwäbischen Bürgern. – Oder sollte ich sagen Bürger … Innen?“
Beim letzten lehnt er sich genüsslich zu mir herüber. – Und wie er grinst.
Ich will ihm ins Gesicht spucken, habe aber seltsam flauschige Federn im Mund, die ich erst loswerden muss.
„Du, ich glaube, der Stuhl wird wieder locker. Aber mach dir mal keinen Stress. Den halte ich mal eben.
Was sagtest du noch gleich war das Problem, dass du bei deiner Ex keinen hoch bekommen hast?“
Eigentlich schien gerade alles gesichert, nur fing der IC plötzlich an sich um sich selbst zu drehen – quasi in einer Helix-Bewegung.
„Ach, vergiss es. Du siehst nicht gut aus. – Kohletablette?“
Mit der ersten Silbe von „Koh-le“ übergebe ich mich unkontrollierbar und dabei pressen sich Ananas-Stückchen in meine Nase.
„Du hast echt bei dem guten Italiener eine Hawaii bestellt? – Abartig.
Ja, und weil du grad nicht sprechen kannst, mach ich den „Pizza-Diavolo-Witz“ für dich. Ha-ha. Hammwer jelacht, wa?“
„Kommst du aus Köln?“
Urplötzlich bin ich wieder ganz klar. Es ist ohnehin „alles raus“ und langsam habe ich die Zentrifugalkraft im Griff.
„Ich kenne dich doch?“
„Haha, klar kennst du mich. Alle kennen den Teufel und ich kenne alle Sünder. – Das nennt man Marktlogik.“
„Nein, ich mein kennen.“
„Brauchst du akut Sauerstoff jetzt?“
„Genau, ich kenne das Gesicht. Aus der Aachener Straße. Du hängst immer in dieser einen Bar rum. – Alter, warum gehst du in Köln weg?“
Bei einem Ruck des Zuges in seinem monströsen Fall verliert er kurz das Gleichgewicht, fängt sich aber sogleich.
„Ich geh weg, wo ich will.“
„Ja ja, dir geht das doch um die Mädels.“
„Hey, was wird das hier?“
„Junge, ich bin nicht das Opfer für das du mich …“
Plötzlich wird alles schwarz. Bin ich tot? Werde ich ohne ihn erwachen? Hatte er recht?
Frederik Durczok (*1986) arbeitet als Musiker, Historiker, Pädagoge und freischaffender Autor. Der gebürtige Mannheimer schreibt seit langer Zeit lyrische Texte und seit 2018 vermehrt Kurzprosa. Im Oktober 2022 ist Durczok Stadtschreiber in Soltau (Niedersachsen).
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