Florentine.

Astrid Miglar für #kkl21 „Stigma“




Florentine.

Ein schlankes Holzkreuz. Ein kaum vorhandener Hügel, darauf Blumen. Weiß. Die dominierende Farbe. Auf dem zentralen Mittelpunkt des Kreuzes ein Foto. Das Gesicht eines Mädchens. Florentine. Eines dieser typischen Jungmädchenfotos, voller Leben, auf dem ein Hauch Lolita-hafte Erotik versprüht wird. Rote Lippen. Ein Gesicht, in dem die Augen eine Spur größer sind, als sie es eigentlich sind. Frühreif. Wie diese kleinen Luder eben sind. Reizvolle Sinnlichkeit, gerade im Aufblühen.

Florentine, allein schon dieser Name, der wohl etwas Besonderes aus ihr machen sollte. Auf dem Foto lacht Florentine.

Damals, Margot senkt den Kopf und betrachtet ihre dreckigen Schuhspitzen, hatte Florentine noch Grund zum Lachen. Wie einfach war es gewesen, dieses Lachen zu zerstören. Ein Satz hatte genügt, um dem Mädchen die Fröhlichkeit aus dem Gesicht zu wischen. Ein einziger Satz hatte Florentines Welt in Trümmer gelegt.

Margot stört sich an den Schmutzflecken auf ihren Schuhen. Sie tritt einen Schritt zur Seite. Dorthin, wo sich entlang des gekiesten Weges kurzgeschnittenes Gras befindet. Wer wohl auf diesem Friedhof den Rasen mäht? Sie reibt ihre Schuhe im feuchten Gras. Verzieht ihr Gesicht. Nun klebt neben Erde auch noch Grünzeug auf dem schönen, dunklen Leder. Margot seufzt, zuckt mit den Schultern. Auf Beobachter muss ihr Verhalten wirken, als wäre sie todtraurig, dabei ist sie froh, dass das ganze Theater vorüber ist.

Florentines Körper liegt, gut verwahrt, in seinem weißen Sarg. Sie wird rasch welken. Genauso, wie die Blumen, die man ihr büschelweise geopfert hat.

Es war ein Spiel gewesen. Eine Wette, die Margot mit sich selbst eingegangen war. Florentine war zum ahnungslosen Wetteinsatz geworden. Das Mädchen, gerade an der Kippe vom Kind zur Frau, hatte nur einen Fehler begangen. Sie hatte sich in den neuen Lehrer verschaut. Das kam jedes Jahr vor. Die Angebeteten wussten im Normalfall, wie sie sich zu verhalten hatten. Ignorieren! Keinen Anlass für weitere Schwärmereien bieten. Sich als gutaussehender Lehrer im besten Fall eine Gefährtin aus dem Pool der Lehrerinnen zu suchen. Sich dadurch aus dem Wettbewerb nehmen. Und dann brauchte der Pädagoge nur darauf zu warten, dass sich die Jungmädchenhormone auf verfügbare Beute in passendem Alter fixierten.

Margot hatte sehen wollen, was passierte, wenn dieses dumme Ding mit dem ersten richtigen Problem ihres behüteten Mädchenlebens konfrontiert wurde.

Ganz easy. Nur ein Satz. Auf einem Foto. Florentine, wie sie im Bikini am Badesee auf einem Strandtuch lag. Herangezoomt. Neben Florentines Kopf ein aufgeschlagenes Notizbuch. In Wahrheit leere Seiten. Mit Unterstützung eines Bildbearbeitungsprogramms hatte Margot das Gesicht des jungen Kollegen auf dem weißen Blatt eingefügt. Ein fettes rotes Herz drumherum gemalt. Endlich nicht mehr Jungfrau! dazugeschrieben. Das bearbeitete Bild ausgedruckt und überall in der Schule verteilt.

Mit diesem Satz hatte sie Florentine ein Brandmal aufgedrückt, das sie nachlesbar für alle in den Garderoben, an den Klassentüren und an den schwarzen Brettern verteilt hatte. Mindestens fünfzig dieser großformatigen Zettel hingen werbewirksam herum.

Endlich nicht mehr Jungfrau!

Dieser eine Satz hatte genügt.

Der Satz war weitergetragen worden, hatte Florentines Leben verändert. Drei Wochen hatte sie den Spießrutenlauf durchgehalten. Hatte Blicke und Getuschel der Schulkolleginnen und Anmachsprüche der Buben verschämt und mit roten Wangen ertragen. Hatte sich schließlich krankgemeldet, dann die Pulsadern aufgeschnitten.

Florentine war rechtzeitig gefunden und ins Krankenhaus gebracht worden.

Dann, nur ein Moment der Unachtsamkeit: Florentine hatte das dritte Stockwerk gewählt. Das Stiegenhaus. War über das Geländer geklettert und ins Leere gestiegen.







Mein Name ist Astrid Miglar, ich lebe in Reichraming, einer kleinen oberösterreichischen Gemeinde, die direkt am Eingang zum Nationalpark Kalkalpen liegt. Ich bin Gründungsmitglied von textQuartett Steyr, einem literarischen Zirkel, den es seit Anfang 2019 gibt. Wir halten Lesungen zu vielerlei Themen ab, und stellen uns vor allem die Aufgabe der Vielseitigkeit. Schreiben bedeutet für mich, Freude daran zu haben. Es muss einfach so sein. Ich wähle absichtlich das ungeliebte Wort „muss“. Würde mir das Erdenken meiner Texte keine Freude bereiten, gäbe es diese Texte nicht. So einfach ist das. Und gleichzeitig schwierig.

https://www.astridmiglar.at/

https://www.bienenwiese.at/

#kkl Interview mit Astrid Milar HIER






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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