Lass uns über deine Vergangenheit reden!

Oliver Fahn für #kkl21 „Stigma“




Lass uns über deine Vergangenheit reden!

Du wippst unaufhörlich. Dein Schaukelstuhl steht inmitten deines Zimmers, das eine Dachschräge duckt. Du bist ein Pendel das selten stillsteht. Du gibst einen verzögerten Sekundentakt vor und obwohl deine Bewegungen träge sind, wirken sie rastlos. Dein Schaukeln ist innerer Aufruhr. Während du selbst dieses Vor und Zurück erzeugst, stellst du dich mir in deiner frühesten Lebensphase auf dem Arm deiner Mutter aus. Wie du auf ihm gelegen hast, wie sie dich wog. Dem Kindesalter entwachsen, bist du kindlich geblieben. Mein Respekt vor dir verlangt, dass ich mit dir erwachsenengemäß umgehe und doch wirst du jenes Stadium im eigentlichen Sinne nie erreichen.

Wir sprechen über Perspektiven. Dafür brauchen wir zuvörderst deine Vergangenheit, denn auf ihr fußen deine zukünftigen Träume. In deiner Akte steht von geburtlichem Sauerstoffmangel und wenn er zur Sprache kommt, reagierst du völlig nüchtern, beinahe abgestumpft. Seit deine Eltern altersbedingt gebrechlich geworden sind, auch nervlich instabiler, beschränken sich deine Heimfahrten aufs Wochenende. Insgeheim merkst du, sie schleichen den Kontakt allmählich aus. Deine Eltern tun das, um dir das Alleinsein nach ihrem Tod zu erleichtern. Gewiss erahnst du die bevorstehende Veränderung.

Gerade aber beginnen deine Augen zu leuchten, du beugst dich zu mir vor und verweilst, aufnahmefähiger als sonst, in jener Position. Ich nämlich beharre, durch den Wechsel der Pfleger dürfe deine Geschichte nicht verloren gehen, daher müssten wir sie festhalten. Ich zeige dir das Buch, das ich dir mitgebracht habe, in das ich hin und wieder notiere, was du erzählst. Was deine Person angeht, das muss trotz wechselnder Bezugspersonen erhalten bleiben. Ich wiederhole das. Du lauschst. Jedes Wort saugst du auf, sprichst es mir nach. Du bist ein von Ehrlichkeit durchdrungener, in höchstem Maße authentischer Zeitgenosse.

Erzähl mir von deinen Träumen, für die du täglich aufstehst. Neben den Grundbedürfnissen, die größtenteils stellvertretend für dich übernommen werden, sollen deine eigentlichen Anliegen nicht verwahrlosen. Du bist nicht geboren, um bloß verwaltet zu werden. Lass uns aufschreiben, welche Spiele du liebst, wohin du noch verreisen möchtest, durch welche Übereinkünfte du mit den längst woanders arbeitenden Pflegern zurechtgekommen bist, teile mit mir die schönen Erlebnisse, die dich mit inzwischen verzogenen Mitbewohnern verbinden.

Die Seiten füllen sich, du betrachtest den Text, siehst deine Vergangenheit verankert und ich merke deine Billigung, die dein scheues Lächeln ausdrückt. Mit dem hoffentlich bald üppigeren, nach und nach mit Informationen über dich angefüllten Buch, wird deine Biografie beglaubigt. Auch wenn dein Gedächtnis streikt, kannst du dich auf seinen Inhalt berufen. Egal was geschieht, deine Vergangenheit ist darin verankert. Ich sehe dir deine Erschöpfung an. Genug für heute. Keine Sorge, morgen machen wir weiter.







Oliver Fahn wurde am 21.03.1980 in der Kreisstadt Pfaffenhofen an der Ilm im Herzen Oberbayerns geboren. Der Heilerziehungspfleger lebt dort zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Neben dem Schreiben zählt Langstreckenlauf zu seinen Leidenschaften.

Veröffentlichungen:

-Profil auf story.one (unter anderem „Schreibtisch, wann gibst du mich frei?“ und „Auf was ich warte…“)

-#kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin April 2022: „Von der Auferstehung verlorengegangener Nähe“

-Papierfresserchens MTM + Herzsprungverlag (Beitrag zu „Liebesgrüße aus Napoli“) April 2022: „Gutschein mit Folgen“

-#kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin März 2022: „Bewegter Stillstand“

-7. Bubenreuther Literaturwettbewerb Oktober 2021: „Willst du gehen und wenn ja, auf welchen Füßen?“

Interview mit Oliver Fahn HIER






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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