Das Haus von Coccinella

Roberto Conti für #kkl22 „Bewusstheit“




Das Haus von Coccinella

Der Wind wehte unaufhörlich. Seine ungeheure Kraft riss die Blätter
von den Bäumen und verstreute sie zu einen bunten Teppich aus tausend
Farben.
Der Sommer war bereits eine ferne Erinnerung für die Tiere im Wald, die sich
– jedes auf seine Art – auf die kalte Jahreszeit vorbereiteten.
Alle… außer Coccinella, ein Marienkäfer-Mädchen.
Dies war ihr erster Winter und sie konnte sich nicht vorstellen, dass er so hart
werden würde. Zusammengekauert auf einem Blatt musste sie unaufhörlich
niesen. Eine starke Erkältung nahm sie ganz schön mit und machte sie böse
und trotzig.
„Haaaa-Hatschi!“
Gemeinsam mit den ersten fallenden Blättern sind Coccinellas Freunde
verschwunden, einer nach dem anderen. Wo waren sie nur geblieben?
Eine Stimme hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken.
„Was machst du noch hier? Du holst dir noch den Tod!“
Beladen mit einem enormen Krümel versuchte die Ameise Formica den
Erdboden zu erreichen.
„Siehst du nicht, dass ich hier wohne?“
Coccinella reagierte verärgert. „Was willst du denn hier?“ fragte sie sauer.
„Was für ein Benehmen…“; antwortete Formica.
„Ich gehe nach Hause, ist doch klar.“
Nach Hause… diese kleinen Worte nahmen für Coccinella plötzlich eine
andere Bedeutung an. Das Zuhause war für sie immer etwas sehr
selbstverständliches. Nach jedem Ausflug, jedem Essen, nach jedem
Spaziergang war sie auf ihr Blatt zurückgekehrt – ihrem Zuhause. Es war das
größte und schönste Blatt am ganzen Baum. Also war das ihr Zuhause? So
warm und gemütlich im Sommer, so eisig und lieblos in Winter. Es war klar,
dass etwas schief gegangen war. Doch wie findet man das richtige Heim? Es
gab nur eine Möglichkeit, dies heraus zu finden. „Formica, wie hast du dein
Zuhause ausgewählt?“; fragte sie die Ameise.
Formica riss die Augen weit auf. Diese Frage hätte sie nicht erwartet.
„Mein Zuhause habe ich nicht ausgesucht.“ erwiderte sie. „Meine Familie
und ich haben es gebaut. Wir haben es an einem schönen Ort, geschützt vor
Regen und Wind, ausgegraben. Dann haben wir es mit Vorräten gefüllt, um
dort den Winter verbringen zu können.“ erklärte die Ameise, während es ihr
immer schwerer fiel, den schweren Krümel zu tragen.
Coccinella hörte ihr voller Bewunderung zu. Warum war es ihr nicht
in den Sinn gekommen, ein gemütliches und schützendes Zuhause zu bauen,
wie es die Ameisen gemacht haben? „Könnte ich mit zu euch nach Hause
kommen, was meinst du?“ fragte Coccinella die Ameise. „Weißt du, ich würde
auch gerne sehen, wie so ein schönes Zuhause gebaut ist. Außerdem ist es kalt
und ich weiß nicht, wo ich hingehen soll…“
Formica neigte leicht den Kopf. Sie konnte nicht glauben, dass
Coccinella mit einem Mal so freundlich und neugierig geworden ist und
zögerte einen Moment, bevor sie ihr antwortete. „Du bist zu groß, um dort
hinein zu kommen und du würdest nie wieder hinaus gelangen!“ erwiderte
Formica. „Entschuldige bitte, aber warum machst du nicht das, was die
anderen Marienkäfer auch machen?“ Coccinella zögerte ebenfalls. Sie fragte
sich, was die anderen Marienkäfer denn machten. Vielleicht bauen sie sich
ebenfalls ein Zuhause. Ihr kam es auch in den Sinn, dass der Winter vielleicht
auch die natürliche Auswahl zwischen den fleißigen Marienkäfern und denen,
die nicht alleine zurechtkommen, wäre. Kurz gesagt: vielleicht muss man sich
sein Zuhause verdienen. Während Coccinella darüber nachdachte,
verschwand die kleine Ameise Formica mit ihrem enormen Krümel zwischen
den Ästen des Baumes.
Im Laufe der Zeit wurde es immer kälter geworden und Coccinella
fror fürchterlich. Sie konnte sich kaum noch bewegen und ihr Blick wurde
immer starrer. Dann geschah etwas Unvorhersebares. „Ach, endlich haben
wir dich gefunden. Wo bist du nur abgeblieben? Beeile dich, wir müssen
gehen.“ Vor ihr stand ein anderer Marienkäfer, der sie mit ungeduldiger
Miene ansah. Er hatte vier Beine vor dem Körper verschränkt und tippte mit
dem Fuß auf den Boden, um klarzustellen, dass sie seine wertvolle Zeit
verschwendete.
Nachdem er keine Antwort bekam, nahm der Neuankömmling die
unglückliche Coccinella bei den Händen und zog sie den Baumstamm
hinunter. Die beiden machten sich auf den Weg durch Wiesen, die inzwischen
vollständig mit Laub bedeckt waren, in Richtung der großen Eiche. Endlich
dort angekommen hob Coccinella ihren Blick und schreckte zusammen vor
Erstaunen. Am Fuße des Baumes, versteckt zwischen Moos und Efeu,
kuschelten hunderte Marienkäfer in einer großen Gruppe zusammen. Einige
von ihnen schliefen, andere spielten Karten und wieder andere schlürften
Schokolade, doch keiner von ihnen schien zu frieren oder sich zu beklagen.
„Juchuuuu! Endlich seid ihr angekommen!“
Die Marienkäfer machten Platz, um auch die letzten Eingetroffenen in ihrer
Mitte aufzunehmen, begleitet von Freudenrufen, Umarmungen und
feierlichen Gesängen. Während Coccinella schüchtern näher trat, beschlich
sie – wie im Märchen – ein seltsames Gefühl. Inmitten ihrer Familie, von der
sie nichts gewusst hatte, begannen ihre Antennen, sich aufzurichten und die
Äuglein öffneten sich. Die Kälte fiel von ihr ab und ihr Herzchen wurde
unbeschreiblich warm. In diesem Moment verstand Coccinella die Bedeutung
des Wortes „Zuhause“.
Zuhause ist, wo man sich sicher und geliebt fühlt,
Zuhause ist, wo sogar die Erkältung verschwindet




Anmerkung von Roberto Conti zur Geschichte:

„Ich war schon immer beeindruckt davon, wie Marienkäfer den Winter überstehen. Natürlich sind sie nicht die einzigen, die eine strategische Lösung gefunden haben, Tiere sind bekannt, sie überraschen oft mit ihren Ressourcen. Es gibt Menschen, die ihre Haare wechseln, Menschen, die migrieren, Menschen, die Vorsorge treffen, und sogar Menschen, die Winterschlaf halten können. Aber Marienkäfer machen noch etwas anderes, sie rollen sich in Gruppen zusammen, um ihre Körperwärme zu teilen. Ja, denn auch wenn es nicht so aussieht, die Marienkäfer haben ihre eigene Körperwärme. Diese unendlich kleine Wärmemenge, die jeder von ihnen teilt, ist grundlegend für das Überleben der Gruppe, die vielfältig ist und die Art der Marienkäfer, aus denen sie besteht, nicht diskriminiert. Darin sehe ich Respekt, Vereinigung, Teilen, Zusammenarbeit und Aufmerksamkeit für die anderen, das Konzept, dass Ihr Leben so gut ist wie meines. Kurz gesagt, alles ist da. Was wäre, wenn ein kleiner Marienkäfer uns etwas beibringen könnte, das all unsere Krankheiten heilen kann?




Roberto Conti wurde 1979 in Rho (Mailand – Italien) geboren. Seit er sehr jung war, hat er eine Leidenschaft für Musik, ein Gefühl, das er nie aufgehört hat zu kultivieren. Er widmet sich besonders der Praxis und dem Studium der E-Bassgitarre und spielt in verschiedenen Bands der Mailänder Rock- , Funk- und Grunge-Szene. Im Jahr 2005 schloss er sein Studium der Geologie ab, aber sein beruflicher Weg durchläuft fast sofort eine erfreuliche, quantenunerwartete Variante. Derzeit ist er Niederlassungsleiter bei einem deutschen Chemietransportunternehmen und leitet die Verteilung bestimmter Arten von Gasen und Flüssigkeiten auf italienischem Gebiet. Leidenschaftlich für Reisen, Sport, Bücher und Kino, hat er sich schon immer besonders für das Schreiben interessiert. Alle seine Kurzgeschichten und Romane bleiben jedoch verschlossen in einer Schublade, bis er das wirkliche Bedürfnis nach externem Feedback spürt. Es ist die Gelegenheit, sich für den von Opera Uno organisierten Wettbewerb Literarische Kreativität 2018 anzumelden, bei dem er sich als einer der Finalisten in der Sektion „unveröffentlichte Werke“ qualifiziert. Es ist der erste Schritt auf einem Weg, der ihn 2020 zur Zusammenarbeit mit Rossini Editore – Santelli Publishing Group führt.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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