Emma-Grace Perry für #kkl22 „Bewusstheit“
Herumgezicke
Die Treppe knarrte unter Julis Füßen.
„Hilft du mir? Du kannst die Wäsche aufhängen.” Julis Mama stand mit aufgekrempelten Ärmeln in der Küche und wusch Blattsalat. Neben ihr auf dem Fußboden lag eine Laptoptasche. Sie hatte wieder Arbeit mit nach Hause genommen.
Juli verdrehte die Augen. „Mama, ich hab keine Zeit. Ich will jetzt reiten gehen. Nach dem Dauerregen letzte Woche geht es endlich wieder.” Ohne ihre Mutter auch nur eines Blickes zu würdigen, schlüpfte sie in ihre Reitschuhe und rannte aus der Tür. Wäsche aufhängen…als ob sie darauf Lust hatte. Noch dazu nach dieser beschissenen Englischstunde.
Juli rannte die Auffahrt hoch, dann am Nachbarhaus vorbei. Sie pfiff, als sie an dem weiß gestrichenen Koppelzaun ankam. Direkt hinter dem Offenstall, in dem die Pferde Tag und Nacht frei herumlaufen konnten, begann der Wald.
Eine Fuchsstute mit breiter Blesse hob den Kopf und wieherte schallend. Juli lächelte beim Anblick ihres Vollbluts über das ganze Gesicht. Gravitys Koppelgenosse Darwin graste ungerührt weiter, als Juli durch den Zaun schlüpfte, ihre Stute am Halfter nahm und sie von der Koppel führte. In Windeseile war Gravity geputzt. Juli trenste das Vollblut und schwang sich dann auf dessen bloßen Rücken. Weil sie mit der Zunge schnalzte, setzte das Pferd sich in Bewegung. Doch als Gravity die Anspannung ihrer zweibeinigen Freundin fühlte, schlug sie irritiert mit dem Schweif.
„Gravity, jetzt lass das. Ich brauch nicht auch noch deine Zickereien. Der blöde Herr Falke hat etwas gegen mich. Immer macht er sich über meine Aussprache lustig. Aber nur über meine, nicht über Michaels, obwohl der auch kein Sprachtalent ist.”
Weil sie so in Gedanken versunken war, fiel ihr das Rauschen der Blätter im Wind, dass eigentlich ihr Lieblingsgeräusch war, gar nicht auf. Juli verpasste sogar die Abzweigung, an der sie normalerweise wieder Richtung Stall ritt.
Sie wunderte sich erst, als sie den Wald verließen und Gravity unerwartet laut prustend stehen blieb. Juli fröstelte es. „Was ist los?”
Da sah sie warum die Stute sich so merkwürdig benahm. Vor ihnen auf dem Weg stand plötzlich eine braun-weiß gefleckte Zwergziege. Das Tier meckerte leise. Getrockneter Schlamm hing an seinen Beinen und dem Lederhalsband, dessen Schnalle rostig war.
Vorsichtig ließ Juli sich von ihrer Stute gleiten und ging mit ausgestreckter Hand auf das fremde Tier zu, während sie Gravitys Zügel in der anderen hielt.
„Hallo Ziege. Woher kommst du denn?”
Das Tier kam ihr neugierig entgegen. Entschlossen packte Juli es am Halsband. „So, jetzt müssen wir nur herausfinden, wo du wohnst.”
Juli sah sich um. „Okay, wenn wir nicht querfeldein laufen wollen, gibt es nur eine Möglichkeit.”
Sie führte beide Tiere den Pfad, der zwischen zwei Weizenfeldern verlief, entlang. Bald kam ihr ein bärtiger Mann mit einem Beagle an der Leine entgegen.
Juli brachte die Tiere zum Stillstand. „Entschuldigung. Gehört die Ziege vielleicht Ihnen?”
„Nein, das Vieh gehört sicher der alten Frau Kruse. Da musst du noch ein paar hundert Meter weiterlaufen und dann ist links so ein kleines, ungepflegtes Haus.”
Gravity folgte ihrer Zweibeinerin gehorsam, doch die Ziege hatte andere Vorstellungen. Immer wieder versuchte sie entweder umzudrehen oder unterschiedliche Gräser zu verkosten. „Wenn du so langsam läufst, komm ich heute nicht mehr heim”, schimpfte Juli.
Eine Viertelstunde später war es trotzdem geschafft. Juli sah das beschriebene Haus und daneben ein eingezäuntes Gehege mit einem hölzernen Unterstand. Ein Esel und eine schwarze Zwergziege standen vor einer fast leer gefressenen Heuraufe. Nun wusste Juli, warum die Ziege so schlammige Beine hatte. Der Großteil des Auslaufs war komplett matschig und auch das Stroh im Unterstand sah dreckig aus. Als Juli auffiel, wie schief das Tor in den Angeln hing, ging sie davon aus, dass die Ziege dort ausgebrochen sein musste. Wer konnte es ihr verdenken, wenn sie in so einem Dreckloch wohnte?
Zorn stieg in Juli auf. Tierquälerei war das. Warum gab es so viele Arschlöcher auf dieser Welt? Wie konnte man sich nur Tiere anschaffen und sie so behandeln?
Die Ziege ging widerwillig in ihr Gehege, als Juli das Tor öffnete. Sie schloss es mit blutendem Herzen hinter dem Tier und sah sich nach schweren Gegenständen um, mit dem sie einen erneuten Ausbruchsversuch verhindern konnte. Sie fand nichts Passendes, aber dafür ein altes Seil, mit dem sie das Tor zuband.
Dann ging Juli mit Gravity um das Haus herum, weil sie die Besitzer zur Rede stellen wollte. Ein paar Stufen und ein rostiges Geländer führten zur Haustür. Sie klingelte. Niemand kam. Juli wurde noch wütender. Wenn niemand aufmachte…vielleicht würde sie einfach die Polizei anrufen und diese Menschen wegen Tierquälerei anzeigen.
Sie klingelte erneut und ein drittes Mal. Jetzt hörte sie schwere Schritte von drinnen. Es klang, als würde jemand etwas hinter sich her schleifen. Mit einem Mal wurde ihr mulmig zumute. Sie zuckte, weil ein Kolkrabe vom Hausdach aus krächzte.
Die Tür ging auf. Eine grauhaarige Frau, auf Krücken gestützt und mit einem eingegipsten Bein, stand vor ihr. Unten an ihrem Gips klebte Schlamm. Juli rümpfte die Nase, als ihr der Körpergeruch der Frau entgegenschlug.
„Ja?”, fragte Frau Kruse.
„Hallo. Mein Name ist Julia Weidenhofer. Ihre Ziege war entlaufen. Ich habe sie wieder ins Gehege gesperrt.” Juli war drauf und dran, sich umzudrehen.
„Oh, sicher die Miri? Die Braun-weiße?”
„Genau”
Die Frau lief rot an. „Ich bin momentan nicht so mobil”, Frau Kruse deutete auf ihren Gips, „kannst du mir einen Gefallen tun und die Heuraufe füllen…und vielleicht nachsehen, ob noch Wasser in den Wassereimern ist?”
„Ja…sicher mach ich das.” Juli war von ihrer eigenen Antwort überrascht.
„Dein Pferd kannst du währenddessen anbinden. Im Schuppen mit dem Heu liegen noch alte Halfter. Meine Tochter hatte früher auch Pferde.”
Juli führte Gravity um das Haus herum. Der Schuppen befand sich direkt hinter dem Unterstand.
„Das wird schon gehen”, dachte sie und streifte ihrer Stute ein schwarzes Halfter über. Dann band sie sie mit einem Strick am Zaun an. Im Schuppen lagen ein paar Heu- und Strohballen gestapelt. Mit ihrem linken Fuß stieß sie gegen ein stumpfes Messer, mit dem sie anschließend versuchte, die Heuschnüre zu durchtrennen. Juli sägte minutenlang herum, bis die blaue Schnur auseinandersprang. Mit einem Arm voller Heu marschierte sie in die Koppel. Juli verzog ihr Gesicht nach drei Schritten, weil sie spürte, dass ihre Socken bereits nass wurden.
Die Tiere näherten sich neugierig, allen voran Miri, die fordernd meckerte. Tatsächlich richtete die Ziege sich an Juli auf, wobei sie Abdrücke an deren T-Shirt hinterließ. „Miri, lass das!”, rief Juli, musste aber lachen. Miri und ihre Freunde drängten sich an die Heuraufe, als Juli die beiden Wassereimer kontrollierte. Einer musste gefüllt werden. Nachdem das getan war, ging sie wieder in den Schuppen und trug ein paar Arme voll Stroh in den Unterstand, damit die Tiere wieder eine trockene Unterlage hatten. Daraufhin band sie Gravity los und ließ noch einmal ihren Blick über das Gehege gleiten. Sie marschierte zur Tür, die nur angelehnt war.
Sie quietschte, als Juli sie aufdrückte. „Frau Kruse? Ich mach mich auf den Heimweg.”
„Danke, Julia!”, hallte es aus dem Wohnzimmer.
„Wie lange haben Sie den Gips noch?”
„Zumindest zwei Wochen. Warum?”
„Haben Sie denn jemanden, der mit den Tieren hilft?”
Einen Augenblick lang war es still.
Juli rief lauter: „Haben Sie jemanden, der Ihnen helfen kann?”
„Mein Enkelsohn kommt vorbei, aber der ist gerade mit der Schule in Irland und kommt erst übermorgen zurück.”
„Dann komme ich morgen noch einmal vorbei.”
Frau Kruse schniefte. „Wie soll ich dir das danken? Die Tiere bedeuten mir alles.”
„Ich hab Ihre Tiere auch schon ins Herz geschlossen. Bis morgen. Ich komme nach der Schule vorbei.”
Von der untersten Treppenstufe aus sprang Juli wieder auf Gravitys Rücken. „Sorry, dass ich vorher so grantig zu dir war, Gravity. Ich hatte einen schweren Tag.” Sie schüttelte den Kopf. Weil ihr Lehrer ungerecht war, hatte sie ihre Mama und Gravity angezickt und Frau Kruse unterstellt, dass ihr die Tiere egal wären. Dabei war ihr Frust wirklich nicht deren Schuld. Die Fuchsstute schnaubte sanft.
Als Pferd und Reiter am Stall ankamen, war es bereits dämmrig.
Juli säuberte Gravitys Hufe und entließ sie durch das weiße Tor auf die Koppel. Die Stute drehte sich noch einmal um und legte ihr Kinn auf Julis Schulter. Juli musste lachen, weil die Tasthaare des Pferdes sie an der Wange kitzelten. Sie streckte ihre Arme aus und kraulte ihr Vollblut hinter den Ohren.
Dann machte sie sich auf den Nachhauseweg. Die schlammigen Schuhe zog Juli vor dem Eingang aus. Als sie nach der Tür griff, wurde diese von innen aufgerissen.
„Juli, da bist du ja endlich! Ich dachte schon, es wäre dir etwas zugestoßen.“ Julis Mama strich ihrer Tochter über die Haare. Dann machte sie einen Schritt zurück. „Sag mal, wie siehst du denn aus?”
„Ich hab mich verritten…und dann war da auf einmal eine Ziege…”
„Geh dir die Hände waschen und dann essen wir und du erzählst. Zumindest kannst du dir heute nicht mehr den Mund an der Lasagne verbrennen. Die ist mittlerweile lauwarm.” Julis Mutter lachte.
Erst jetzt fiel Juli der einladende Duft auf. Während sie ihre Hände einseifte, sah sie die leere Waschmaschine im Spiegel. Ihre Mama stellte gerade zwei Teller auf den Tisch, als Juli gelaufen kam und sie umarmte.
Emma-Grace Perry
Emma-Grace Perry wurde 1988 in Linz geboren. Die letzten zwölf Jahre hat sie in Dänemark, Belgien, den USA und Deutschland gelebt. Sie promovierte zu einem Tierwohlthema und verbringt ihre Zeit mit diversen Vierbeinern oder damit, sich Tiergeschichten auszudenken. Seit 2021 wurden einige dieser Geschichten veröffentlicht.
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