U4

Linus Hellwig für #kkl22 „Bewusstheit“




U4

Die U-Bahn setzt zu entschleunigen an und Dein Körper wird schwer, wie er müder wird.
Du bist taub für die Massen um Dich herum; für die Menschenhüllen, die mit der Sicherheit von Traumwandlern in einem knappen Raum einströmen, ohne ihn zu teilen.
Und Dein Blick greift leer in den flutwogenden Waggon, weil Deine Gedanken noch in den Wolkenbildern der letzten Nächte hängen.
Ihr weißer Körper verrenkt sich unter Dir, bis er irgendwann vergossen im Bett liegt wie ein umgestoßenes Glas Milch.
Und Du liebst sie, wenn sie ganz zum Leib geworden ist und findest keine Namen dafür.
Immer und jedes Mal musst Du Dich von ihr lösen, bevor Dein Hunger gestillt wurde und der letzte Kuss nimmt Abschied von ihren Brüsten.
Wie lange wird das einmal her gewesen sein?
Dein Bewusstsein wird vom Augenblick gefordert, als Du in die Längenfeldgasse einfährst. Erneutes Fluten. Aber dieses Mal giert es Dich danach, mit Deinem Blick die Gesichter jener Männer zu fassen, die den ausströmenden Frauen hinterhergaffen: unbewegt von der Bewegung zu sein.
Einer von ihnen stützt seinen Rücken an die kleine Scheibe deines Abteils und der Abdruck seines geebneten Hemds verläuft mit jedem Atemzug an seinen Rändern wie ein verspielter Regentropfen.
So vergehst Du einige Momente in Schaulüsternheit, bis der Gedanke in Dir aufbrennt, sie könnte sich schon gemeldet haben; sich noch im wirren Halbschlaf nach Dir ausstrecken, um Deine Nähe zu tasten. Gähnend verrenkst Du Dich nach Deinem Handy in der Tasche. Allein
auf dem Display keine Nachricht.
Tiefer, viel tiefer müssen Spuren von ihr in diesen Strukturen eingegraben sein, die sich nur so leicht von Deinem Zeigefinger aufschlüsseln lassen, weil sie sich stetig veräußern müssen, um auf der Stelle zu stehen.
Und so spürst du ihr nach und vernimmst darüber keinen Druck, keine Stimmen und keine Wärme auf der nackten Haut, als die U-Bahn aus der Station hinausschießt und in die rotfärbende Glut der Sonne gerät.
Unbeteiligt zieht eine ganze Welt an Dir vorüber, bis Du nun doch einmal mit späten Blicken in das Fenster siehst.
Da ist ein Tunnel und die Scheibe sendet dir nur geizig Dein eigenes Spiegelbild entgegen, das sich von der Dunkelheit umlagert nur schwach mit undeutlichen Konturen abzeichnet ‒ fast, als wäre es in Kohle gemalt.
Wunder des Selbst-Seins! Du verwechselst Dich mit deinem Bilde und wirst ganze Realität für eine Ewigkeit …
Und dann, mit einem Male, erlöschst Du, als es wieder ins Freie geht und ein Zug, in derselben Geschwindigkeit gefasst wie Du, lässt Dich in einen anderen Waggon hineinblicken.
Da erkennst du Sie! Es sind ihre klaren Augen in dem Gesicht eines fremden Mädchens. Sie scheinen dort wie heiße Kohlen in einem verlassenen Haus.
Du spürst eine Wärme und die Morgenröte züngelt sich durch den gesamten Himmel.




Linus Hellwig

* 1992 in Göttingen. Studierte Psychologie und Philosophie an der Universität Wien. Neben Veröffentlichungen philosophischer Essays und lyrischer Texte hat er als Gitarrist mit Dutzenden Musiker*innen zusammengearbeitet. Er ist Mitgründer des Kollektivs 16° WIEN, das diverse interdisziplinäre Events ausgerichtet hat und junge Künstler*innen bei ihren ersten Schritten ins Rampenlicht begleitet.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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