Schlaflos

Sonja Marie Krajewski für #kkl22 „Bewusstheit




Schlaflos

Früher habe ich zum Einschlafen meine Atemzüge gezählt. Seit ich Mutter bin, komme ich kaum bis drei. Ich glaube, für Mütter ist Schlaf das wohl kostbarste Gut. Aber jetzt bin ich schon bei 3625, während mein Geist weiter haltlos durch die Nacht irrt. In meinem Arm schläft friedlich mein fünfjähriger Sohn. Es ist spät geworden. Knapp 20km Stau auf der A21 und wir mittendrin. Besser gesagt: Wir am Anfang.

Der gleichmäßige Atem meines Sohnes beruhigt mich, bis ein trockenes Schluchzen den Frieden stört. Erschrocken halte ich die Luft an. Es war mein Schluchzen! Mein Sohn räkelt sich. „Sch, sch, sch…“ flüstere ich und streiche ihm beruhigend übers Haar. „Sch, sch, sch…“ flüstere ich mir selbst zu, als die Flammen wieder vor meinem inneren Auge auflodern. Denn wieder steht unser Wagen auf der A21. Hinter mir schreit mein Sohn. Wortlos drehe ich mich um, drücke ihm ein Tuch vor den Mund, huste. Er wehrt sich. Ich packe fester. Er muss stillhalten. Meine Lungen glühen. Der Gurt klemmt.

In einem brennenden Auto haben Erwachsene drei Atemzüge Zeit bis zur Ohnmacht. Kinder einen. Dann kommt der Tod.

Später wird der Feuerwehrmann mir eine Beruhigungszigarette anbieten. Und ich werde ablehnen. Denn ich bin ruhig. Vollkommen ruhig habe ich meinem Instinkt das Kommando überlassen, als das Auto Feuer fing: Warnblinker setzen, Seitenstreifen. Erster Atemzug. Anhalten, Tuch vor Kindermund. Zweiter Atemzug. Abschnallen. Tür auf. Sie klemmt. Dritter Atemzug. Nochmal. Fester. Endlich Luftholen! Aber auch draußen überall der Qualm von verbranntem Gummi, Schwindel.

Sohn raus. Geschafft! Zumindest die Hälfte. Denn ich habe noch eine Tochter. Rum ums Auto. Aber ich passe nicht in den Spalt zwischen Leitplanke und Wagen! Panik wallt auf, wird verjagt. Panik muss warten. Zwischen meiner Tochter und mir ein unüberwindbar schmaler Spalt und eine Mauer aus gleißender Hitze. Meine Augen tränen. Dieser Rauch verdammt!

„Sie haben alles richtig gemacht!“ sagt der Feuerwehrmann und steckt sich selbst eine Zigarette an. Er hat Tränen in den Augen. Ich nicke stumm.

Meine Tochter – Sie war immer so schmal, so zart…

Keine Worte der Welt könnten den Moment beschreiben, in dem ich aufgab, zurücktrat, aufsah. Als die Erkenntnis jede Faser meines Seins durchdrang.

Ich blinzelte. Und dann stand sie dort am Straßenrand, die Puppe im Arm. Sie weinte nicht, beobachtete nur, wie der einst silberne Lack an unserem Wagen goldene Blasen warf, bevor sich die nächste Flamme hindurchfraß. Für meine schmale Tochter war der Spalt breit genug.

Morgen wird in der Zeitung stehen „40jährige Mutter rettet geistesgegenwärtig ihre zwei Kinder aus brennendem Auto“. Aber das stimmt nicht. Ich habe nur eines gerettet.

Und trotzdem – in dieser schlaflosen Nacht wärmen zwei Kinderkörper den meinen. Welch tiefe Dankbarkeit mich dafür erfüllt, kann keiner erfassen, der nicht weiß, dass die beiden vor der Abfahrt Plätze getauscht hatten. Warum sie es taten, weiß ich nicht mehr. Aber eines weiß ich:

Mein Sohn kann seinen Gurt noch nicht alleine öffnen.




Sonja Marie Krajewski, 14.03.1979 (Kiel), Diplom-Pädagogin, verheiratet, zwei Kinder (8 & 11 Jahre)








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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