Martin A. Völker für #kkl22 „Bewusstheit“
Sei deine Reisebegleitung
Stelle dir vor, du willst verreisen. Was tust du? Du stellst Dinge zusammen, die du als Reisende:r benötigen wirst. Was möchtest du anziehen, während der An- und Abreise, zu besonderen Anlässen, jenseits der besonderen Anlässe? Was ist mit dem Hut? Kann es sein, dass du wirklich weniger Haare hast, als du denkst? Und was folgt daraus? Womit füllst du deinen Kulturbeutel, damit die Natur nicht gar so arg durchschlägt. Nimmst du die Plastikzahnbürste mit den unterschiedlich hohen Borsten oder die mit Buchenholzgriff und flacher Bürstfläche? Wie hältst du es mit der Zahnpasta? Ist die Zeit reif, um es mit Aktivkohle zu versuchen? Die Zahnseide lässt du daheim, obwohl du bereits jetzt innerlich hörst, was deine Zahnärztin dir bei deinem nächsten Besuch sagen wird. Womit willst du dir die freie Reisezeit vertreiben? Mit einem Buch? Mit mehreren Büchern? Welche Bücher sollen es sein? Die vom Nachttisch oder jene, an denen du täglich vorbeiläufst, die dich aus dem Regal heraus fragen, warum du sie nie gelesen hast? Fehlen noch die Schuhe, und jetzt wird es ganz kompliziert. Jeder Griff nach den Dingen will wohl bedacht sein, ansonsten könnte deine Reise zur Irrfahrt missraten. Ohne Reiseabsicht würdest du dir kaum solche Gedanken machen. Das ist unschwer an deiner Zahnbürste zu erkennen. Sie schrubbt, aber putzt nicht mehr. Die Bilderfolge der geglückten Reise und Reisevorbereitung übertrage nun auf dein Leben. Das Leben ist ein Prozess, der begonnen hat, bevor du in das Leben getreten bist, und es wird, anders als du selbst, niemals enden. Leben ist Bewegung, Fortbewegung, und du kannst dich bewegen lassen. Aber damit du nicht hierhin oder dorthin geworfen wirst, bereite dich vor. Sich bereiten: Die Zügel in die eigenen Hände nehmen und lenken, weil du abgeworfen wirst und im Morast landest, wenn es andere tun. Mache dir bewusst, welche Dinge und welche Menschen zu deinem Leben gehören sollen, oder warum sie in keinem Fall dazugehören dürfen. Entscheide dich. Das Bewusstmachen holt Dinge und Menschen aus einem Brei der Möglichkeiten, in dem alles immerwährend unmöglich bleibt. Das Herausheben aus diesem Brei wertet einzelne Dinge und Menschen auf. Etwas ist nicht bloß existent, es wird bedeutungsvoll für dich. Dein Herz hängt daran, du fühlst dich gut, von den Guten, vom Guten wie von Güte umgeben. Mache es wie in einem Restaurant, wo nur das auf deinem Teller Platz findet, was du als großes Geschmacksereignis aus der Speisekarte herausgelesen hast. Gehe bewusst mit dem bewusst Gewählten um. Schlinge nicht beim Essen. Schlingen entwertet das Wertvolle und lenkt ab. Schlingen ist wie der süchtige, stiere Blick auf dein zuckendes Smartphone oder in ein Buch, während sich am Zielort deiner Reise ein schier unglaubliches Bergpanorama zeigt. Gutes Essen ist bewusstes Schmecken: Wie fühlen sich die Dinge im Mund an? Wie verändert sich ihr Geschmack, wenn sie sich auf dem vorderen oder hinteren Teil deiner Zunge befinden? Machst du dir die Dinge und die Umgebung bewusst, wirst du merken, was du an dir und an deinem Leben ändern musst, ändern darfst. Das ist auch der Grund, warum wir die meisten Dinge und Menschen in das Dickicht des Unbewussten und Ungewissen hineinjagen. Deshalb schrubben wir, ohne zu putzen, deshalb irren wir herum, ohne zu reisen, deshalb existieren wir, ohne zu leben.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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