Luise Apel für #kkl22 „Bewusstsein“
Magie im Moment

Ein klarer Morgen.
Eine friedliche Stimmung.
Oktober.
Es ist schnell kalt geworden in diesem Jahr.
Vom satten Sommergrün erschien der Übergang ins Herbstgold bis hin zum winterlichen Frostklar wie ein Sprung über eine Pfütze an einem verregneten Tag.
HOPS.
Nur drei Mal zu Bett gegangen und wieder aufgewacht.
Und plötzlich war alles neu.
Das Gefühl. Die Stimmung. Die Gedanken. Die Zeit.
Der eigenartige Abschnitt zum Jahresende, der den Wechsel von Herbst auf Winter so unüberwindbar scheinen lässt. Und doch so viel Gutes in sich trägt.
Der charmante Reif ruht fellgleich auf den zarten Blättern und Ästen, die sich der melancholischen Last des Herbstes gehorsam beugen.
Die Raben krächzen heiser in den Bäumen. Lassen ihre Schnäbel von links nach rechts wandern. Blinzeln viel, sind unruhig. Krächzen wieder.
Der See – in seiner obersten Schicht gefroren – wiegt sich selbstgefällig im romantischen Kristallspiel und präsentiert seine Gestalt mondän den umliegenden Gesellen.
Bäume. Hecken. Geäst. Knöchern, hart und unflexibel.
Die Sonne blinzelt zaghaft durch das kahle Geäst der Baumkronen, die all ihre prachtvollen Gewänder der Sommersaison widerwillig abgelegt haben und nun stolz darauf sein müssen, prächtige Schattenspiele auf den harten und kalten Boden werfen zu dürfen.
In anmutiger Gestalt hält sie inne, zeigt noch nicht ihre volle Pracht. Übt sich in Zurückhaltung. Genießt das Warten der anderen. Schmückt sich mit deren Neugier. Badet genüsslich in der Vorfreude aller.
Langsam und grazil aus dem Haus tretend, stößt er die warme Luft aus seiner Lunge. Beobachtet seinen sich klar abzeichnenden Atem beim transparenten Tanz in der Atmosphäre. Die winzigen Gaswölkchen, die liebevoll von seinen fleißigen Lungenbläschen geformt worden waren, kondensieren sofort in ihrer neuen Umgebung.
Die Kälte zieht in seine Augen. Es schmerzt und er blinzelt wild, um das entstandene Gefühl plötzlich rauer Trockenheit zu kompensieren.
Er atmet tief. Schließt die Augen. Hält kurz inne. Lauscht der Stille, die so gewaltig um ihn schwingt und ihn fast zu verschlingen droht. Er kann sie kaum ertragen, so laut schreit sie an diesem Morgen.
Wieder öffnet er die Augen. Sieht in den Himmel.
Geblendet vom Hellgrau des großen Gewölbes, das sich nur schwerlich vom Grellweiß unterscheiden lässt, kneift er die Augen zusammen, stellt wieder scharf und erspäht einen schwarzen Pfeil aus laut kreischenden Wildgänsen am Himmel. Verfolgt die geflügelten Gefährten interessiert. Atmet.
In weiter Ferne: Ein Klirren. Immer noch im Märchen der Wildgänse gefangen fällt es ihm schwer, daraus einen Realitätsbezug zu formen. Er strengt sich an. Diffuse, farbige Strudel formen sich um ihn, halten ihn fest und erschweren ihm die Rückreise.
Wieder schließt er die Augen. Konzentriert sich. Atmet.
Als er die Augen öffnet, schwimmt der Moment in einem Aquarell. Er zwinkert, kneift die Augen zusammen. Verleiht dem Moment eine stabilere Form.
Ein alter Mann mit befelltem, kleinem Freund mit großen Schlappohren und kurzen Beinen bewegt sich langsam ins Bild. Von links nach rechts. Die Jacke viel zu dünn. Der Rücken skoliotisch gebeugt, langsame Schritte machend. Tipp, tapp, tipp, tapp.
Der Vierbeiner passt sich ihm an. Schleppt sich liebevoll und treuherzig neben ihm her. Auch er hat das reife Alter offensichtlich erreicht.
Das Taupe seiner Jacke und Schiebermütze tarnt ihn. Passt sich gut dem Naturraum an. Lässt ihn fast unsichtbar sein. Den einzigen Akzent setzen seine stahlblauen, munteren Augen, aus denen das Leben herausschreit.
Ihre Blicke treffen sich.
Von seinem Naturell getrieben lächelt er dem älteren Herrn und seinem rührenden Gefährten zu.
Die Haut: vom Wetter gegerbt, braun, rau, stumpf. Sein Gesicht: durchzogen von tiefen Falten, die an gewaltige Holzkerben erinnern. Mittig thronend: eine markante Nase, auf der sich riesige Poren tummeln. Die Lippen: schmal und blass, erschöpft vom lebenslangen Worteformen. Die Haut um die Wangenknochen: sehr fein, fast dünn. Ein Zusammenspiel aus winzigen, blau-violetten Äderchen darauf, die sich ineinander verästeln und nah verwandt mit Kinder-Kritzeleien zu sein scheinen.
Der Mund öffnet sich weit, zum Vorschein kommen gerade, aneinandergereihte Zähne, oben wie unten. Eindeutig ein Gebiss. Indem er lächelt, liegen seine Augen in lebendig geschwungenen Falten, die von geröteten Wangen unterstrichen werden.
Ein glücklicher Moment. Für alle drei. So klar wie der Morgen selbst. Seelengüte.
Ihm wird bewusst: Es sind so viele zauberhafte Momente, die an Magie nicht zu übertreffen sind. Die ihn begleiten. So fleißig sind in dem, was sie für ihn sein wollen: Liebe. Glück. Euphorie. Und vor allem: Hoffnung.
Denn die Momente wissen, ohne all das ist er verloren. Deswegen kehren sie zurück. Jeden Tag. Zu jeder Zeit. Ein Leben lang. Sie begleiten ihn für immer, denn sie lieben ihn sehr.
Er schämt sich. Denn oft bemerkt er sie nicht. Lässt sie einfach vorüberziehen und trägt sie nicht einmal in seinem Bewusstsein.
Ihn fröstelt als er bemerkt, wie oft er den Zauber vergisst und sein Herz verschließt.
Im selben Moment überkommt ihn ein hoffnungsvolles Glücksgefühl. Sein Puls erhöht sich, er hört sein Blut rauschen. Es strömt mit einer solchen Intensität, dass er die feinen Härchen spürt, die überall auf seinem Körper sitzen und nun zart kitzeln.
Er schließt die Augen. Atmet tief. Sammelt sich. Wird ruhig.
Die Härchen kitzeln nicht weiter. Das Blut zirkuliert wieder leise. Der Puls beruhigt sich.
Er öffnet die Augen. Sieht in den klaren Morgen.
Kein Aquarell. Alles ganz eindeutig.
Friedlich. Im Einklang.
Er freut sich. Ist dankbar. Und läuft los.

Luise Apel
„Oft schreibe ich über Dinge, die ich erlebt und bewusst wahrgenommen habe. Lustig, traurig, nachdenklich – alles vertreten. Ich bin dabei bemüht, das von mir Erlebte so intensiv und farbig wie möglich zu beschreiben, um Menschen damit zu erreichen, um ihnen zu zeigen, wie schön ein einziger Moment, eine erlebte Anekdote, ein Kuss, ein Händehalten sein können. Die Zeit ist so schnelllebig geworden und wir vergessen oft die wunderbaren, kleinen Dinge in unserem Leben. Davon möchte ich gern ein Stück an die Menschen zurückgeben. Es ist mir wichtig, mit möglichst viel Gefühl und Emotion zu arbeiten, um in den Lesern eine intensive und nachvollziehbare Reaktion hervorzurufen.
Die Liebe zur Deutschen Sprache entdeckte ich bereits im Kindes- und Jugendalter, studierte später Germanistik an der TU Chemnitz und wechselte dann noch einmal in die freie Wirtschaft, in der ich seitdem im Bereich eCommerce, Digitalisierung, Brandmarketing und Website-Layout tätig bin. Neben dem Schreiben fotografiere ich unheimlich gern und versuche, das von mir Wahrgenommene über die Bildsprache so in Szene zu setzen, dass ein emotionaler Moment daraus entsteht. Gemeinsam mit meinen zwei Fellkindern Akela & Alea (Jack Russell Terrier) betreibe ich sehr viel Sport. Sie sind Geschwister aus einem Wurf, unzertrennlich und die größte Liebe für mich, die ich bisher in meinem Leben erfahren durfte. Sie erleben fast jeden Moment gemeinsam mit mir.“
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