Annika Thöle für #kkl22 „Bewusstheit“
Die schöne Zukunft im Augenblick
Ich liege inmitten einer Wiese und schaue in den strahlenden Himmel. Wolken ziehen wie Reisende an mir vorbei, sie scheinen es nicht eilig zu haben. Keine Strecke erscheint ihnen zu groß zu sein, kein Ziel zu weit entfernt. Ich würde gerne wissen, ob diese weißen Gestalten überhaupt ein Ziel haben, wenn sie ihre Reise starten oder ob sie dieses erst als solches ansehen, wenn sie dort angekommen sind. Mein Blick wandert von einer Wolke zur anderen. Alle sehen sie unterschiedlich aus, genau wie wir Menschen und doch
sind wir uns nicht in allen Bereichen ähnlich. Wie viele Menschen hätten den Mut eine Reise zu starten, ohne zu wissen, wo sie landen werden? Ohne zu wissen, wann sie zurückkommen und was in der Zwischenzeit passiert ist. Wir Menschen überlassen nichts dem Zufall, wir versuchen das Leben, unsere Zukunft zu kontrollieren und zu planen.
Ich rolle mich von meiner gestreiften Picknickdecke und greife in meinen Rucksack. Blind krame ich darin herum, bis ich ihn gefunden habe, meinen Kalender. Ich fahre über den abgenutzten Einband und schlage die Seite auf, die von einer zerfetzten Kordel markiert wird. Ich schrecke auf, eigentlich dürfte ich gar nicht mehr hier sein. Ich habe seit 15 Minuten eine Chor-Probe und auch meine Verabredung gleich im Anschluss werde ich nur schwer pünktlich einhalten können. Ich stopfe alles in meine Tasche, schwinge mich auf mein grünes Fahrrad und rase los. Seit wann ist das Leben so stressig? Zeit ist nicht mehr das, was sie einmal war. Als kleines Kind waren die Tage länger, oder doch kürzer? Ich weiß es nicht mehr, weil es mir damals egal war. Ich wusste weder welchen Wochentag wir haben noch welche Uhrzeit. Ich habe nicht auf einen Termin, ein Ereignis oder einen besonderen Tag hingelebt, sondern nur für den Augenblick. Das geht nicht mehr. Ich stehe so kurz vor meinem Abschluss, dem Leben danach, auf das ich so lange hingearbeitet habe. Stunden saß ich an meinem Schreibtisch, habe gelernt, um bloß eine gute Note im nächsten Test zu schreiben. All die Arbeit und Mühe haben sich gelohnt. Ich werde dieses Jahr mein Studium beginnen, einen guten Beruf ergreifen können und viel Geld verdienen. Ein kühler Regentropfen fällt auf meine Wange und rinnt diese wie eine Träne hinunter. Wütend wische ich mit meiner Hand den Tropfen weg. Ich bin nicht traurig, das soll keiner denken, ich bin glücklich. Alles, was man in meinem Alter erreicht haben muss, habe ich doch geschafft. Meine Eltern sind stolz auf mich, meine Schule kann es bei meinem Notendurchschnitt auch sein, warum bin ich es tief in meinem Inneren nicht? Scheiße. Jetzt fängt es auch noch richtig an zu regnen. Wolken denken auch sie könnten sich alles erlauben. Immer schneller treten meine Füße in den weißen Sneakern in die Pedale, um zu versuchen den Wolken, der Freiheit, die sie im Gegensatz zu mir haben, zu entkommen. Es fühlt sich an, als würde der Himmel sich über mich lustig machen, mir aufzeigen, was mir alles in meinem Leben fehlt. Der nasse Wind peitscht mir in das Gesicht und weht meine feuchten Locken nach hinten. Ich weine, aber aufgrund des Regens sieht es zum Glück niemand. Wieso muss ich ein Leben leben, das ich so doch überhaupt nicht leben möchte. Ich weiß, um ehrlich zu sein, nicht mal, was ich will, aber genau das würde ich gerne herausfinden können. Wie gerne wäre ich eine Wolke; frei und unabhängig von der Zeit. Eine Wolke schwebt über den Dingen, sie hat den absoluten Überblick. Sie beobachtet die Welt ohne Angst vor der Zukunft, weil ihr Leben eine einzige unbeständige Reise ist. Sie erwartet gar nicht erst zu wissen, was als nächstes passiert, sondern lässt es auf sich zukommen.
Das einschneidende Quietschen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich muss unbeabsichtigt gebremst haben. Bin ich denn schon an meinem Ziel? Ich bin irgendwo, die meisten würden vermutlich sagen, im Nirgendwo. Mein geplantes Ziel ist das hier sicher nicht. Jetzt stehe ich hier im strömenden Regen und mache keine Anstalten auch nur ein Stück weiterzufahren, alles in mir sträubt sich dagegen. Die Wolken spiegeln sich in den dunklen Pfützen auf dem Asphalt. Ich springe ungelenk von meinem Fahrrad, schmeiße dieses auf den Boden und springe mit beiden Beinen auf die Wolke. Nochmals und nochmals trete ich auf das verschwommene Spiegelbild. Ich möchte sie nicht mehr sehen, nicht mehr an alles erinnert werden, was ich nicht haben kann. Das braune Wasser spritzt meine Jeans hoch und verziert diese mit matschigen Flecken. Meine Mama hat mich nie in Pfützen spielen lassen. Was würde sie bloß sagen, wenn sie mich so sehen könnte… Sie wäre entsetzt, aber vor allem enttäuscht. Sowas gehört sich doch nicht für eine Abiturientin. Vor Wut laufen mir Tränen über das Gesicht und fallen zusammen mit den Regentropfen auf den Boden. Meine salzigen Tränen lassen sich dort nicht mehr von den himmlischen Tropfen unterscheiden, sie sind eins. Ich wische mit meiner Hand über den heißen Asphalt und versuche meine Träne wiederzufinden. Nichts. Eine einzige homogene Pfütze. Regentropfen haben eine unglaublich lange Reise hinter sich, tragen Erinnerungen, Gedanken und Gefühle
wie einen Schatz in sich. Wenn man dem Regen lauscht, kann man manchmal diese Geschichten beim Aufprall hören, bevor die Tropfen auf der Suche nach Neuen in der Erde verschwinden. Und trotzdem kommen sie auf eine gewisse Art und Weise unverändert zurück. Regentropfen haben kein Ziel, sie landen dort, wo der Wind sie hinträgt. Im Meer, auf unseren Haus Dächer oder der eigenen Nase. Sie wissen nicht, was die Zukunft mit sich bringt beziehungsweise eher, wohin diese sie bringt. Regentropfen wissen, dass man kein Ziel braucht, dass alles ein Ziel sein kann. Interessante Geschichten gibt es an Orten zu finden, die man nicht kennt, die neu und fremd für einen sind. Wenn man sich ein Ziel selbst steckt, dann weiß man bereits von dessen Existenz und wird höchstwahrscheinlich bei der Rückkehr keine solch fesselnden Erzählungen mitzubringen haben. In der Pfütze sitzend, kommt mir das Leben auf einmal anders vor. Ich weiß nicht mehr wie lange ich hier schon bin, geschweige denn wie viel Uhr es ist, ich bin glücklich. Ich weiß noch nicht, wann ich aus der Pfütze aufstehe und wohin ich danach gehen werde. Keine Ahnung. Das Wissen über die Existenz einer Zukunft darf uns die Gegenwart nicht zerstören. Eintagsfliegen leben einen Tag, nicht mehr und nicht weniger. Würden sie davon wissen, könnten sie diesen einen Tag nicht mehr genießen, aber da sie es nicht tun, haben sie die Möglichkeit ein erfülltes Leben zu führen. Ein kurzes, das stimmt. Aber es kommt rückblickend darauf an, mit wie vielen schönen Erinnerungen das eigene Leben gefüllt ist und nicht wie viele Tage es angedauert hat. Ich möchte am Ende meines Lebens, ganz egal wie lange es war, sagen können, dass ich glücklich bin. Ungewissheit ist die Definition vom Leben, aber genau das gibt uns die Möglichkeit es selbst mitbestimmen zu können und uns auf die Suche nach dem eigenen Glück zu machen. Der Rahmen für das Leben ist gegeben: Die Geburt und der Tod, daran kann man nichts verändern. Aber das, was wir unser Leben bezeichnen ist das dazwischen, das, was wir selbst gestalten können, da diese Geschichte noch nicht geschrieben wurde.
Die Zukunft bietet uns die Möglichkeit etwas tun zu können, um glücklich zu werden, diese Chance darf man ruhig wahrnehmen. Ich lasse mich rücklings auf den Boden gleiten. Meine Kleidung ist nass und schwer, aber ich bemerke es nicht. Meine Konzentration gilt den Wolken. Diese Giganten ziehen am Himmelzelt auf ihren eigenen, unergründlichen Bahnen an mir vorbei. Viel zu schnell, wie die Zeit, diese vergeht auch zu schnell. Es ist bereits dunkel geworden. Sterne haben sich ihren Weg durch die Wolkendecke gebahnt und diese durch ihren hellen Schein vertrieben. Ich vermisse die Wolken, aber ich weiß, dass sie irgendwann wiederkommen werden. Vielleicht helfen sie im Moment irgendwo anders Menschen dabei, die Freude am Reisen und dem Verlassen von vor getrampelten Wegen zu erkennen. Die Sterne sind wunderschön, auch wenn sie so anders sind als die Wolken und ich diese auch mag. Aber im Moment möchte ich mich über die Sterne freuen können, denn diese sind gerade sichtbar. Jede Facette des Lebens hat etwas Schönes, die Kunst ist es, dass bereits im Moment des Erlebens zu erkennen. Eine Sternschnuppe saust vor meinen Augen vorbei. Ich schließe sofort meine Augen und wünsche mir alles zu können, wofür ich die Wolken beneide. Ich spüre, dass mein Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Als ich meine Augen wieder öffne, hat sich nichts verändert.

Annika Thöle
Geboren 2005 in München
,,Ich mag den Regen. Er zeigt mir auf, dass man nur etwas Sonne braucht damit aus Tränen ein Regenbogen entsteht.
Ich glaube an das Gute im Menschen. Meinen Optimismus möchte ich in meinen Geschichten teilen, für den Sonnenschein sorgen, den es braucht, um an dunklen Tagen wieder klar sehen zu können.“
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