Alexander Willms für #kkl22 „Bewusstheit“
Alfreds Anruf
Professor Weinmann unterdrückte ein Gähnen. Gemächlich betrat er den Vorlesungssaal, den die Verwaltung der Universität ihm zugewiesen hatte. Die Medikamente, die er gegen den Bluthochdruck von seinem Hausarzt Krüger verordnet bekam, verursachten als Nebenwirkung eine bleiernde Müdigkeit. Er ließ seinen Blick durch das Auditorium schweifen. Verstreut wie einzelne Puzzleteile saßen Studenten auf den bereitgestellten Stühlen und hatten ihre Collegeblocks auf den vor ihnen stehenden Tischen liegen. Vorne rechts hatte sich eine junge Frau mit braunen Rehaugen niedergelassen, die Weinmann zum ersten Mal sah. Durchaus attraktiv, befand er, rief sich aber sofort zur Ordnung. Immerhin war er seit über 20 Jahren glücklich verheiratet. Er positionierte sein Skript auf einem wackeligen Pult, das sich an der Stirnseite des Raumes vor einer kreidebeschmierten Tafel befand und hängte sein Sakko an einen Wandhaken. Dann wandte er sich an seine Hörerschaft.
„Meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie zu der nächsten Vorlesung zur Zahlentheorie.“ Er griff nach einem Stück Kreide, das auf dem Pult lag, drehte sich zur Tafel und begann seine Ausführungen in der linken oberen Ecke.
*
Neunzig Minuten und eine Vorlesung später trat Weinmann in sein kleines funktionales Büro, ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und dachte nach.
Das Arbeitsleben eines Akademikers lässt sich in zwei Phasen unterteilen, davon war er überzeugt. Die erste Phase bestand aus einer unendlichen Plackerei, aus Kopfarbeit, bei dem man sich tage- und nächtelang das Gehirn zermarterte, nur um am Ende einer erschöpfenden Arbeitswoche halb so weit vorangekommen zu sein wie man gedacht hatte. Daraus resultierte ein stetig wachsender Zeitdruck, der sich durch ein exorbitantes Anforderungsdenken des Doktorvaters noch verstärkte und die ohnehin knapp bemessene Freizeit – und schließlich auch die Nachtruhe – zu einem nicht mehr zu rechtfertigenden Luxus anschwellen ließ. Dazu ein Lohn, für den kein Arbeitnehmer außerhalb des universitären Kosmos auch nur den linken Zeh bewegen würde, die Unsicherheit der befristeten Anstellung und die erbarmungslose Konkurrenz zwischen den Nachwuchswissenschaftlern. Publish or perish – veröffentliche oder verschwinde! Das allen jungen Akademikern wohlbekannte und gleichzeitig zynische Motto der ersten Berufsjahre führte bei nicht wenigen hoffnungsvollen Talenten zu Burnout oder einem Berufswechsel. Kurz: Diese erste Phase war eine Katastrophe.
Weinmann lehnte sich zurück und atmete tief aus. Er befand sich in der zweiten Phase.
Etabliert, vom Staat lebenslang alimentiert und in der mathematischen Community akzeptiert, ja als Koryphäe auf dem Gebiet der Zahlentheorie bewundert. Alle wussten, dass er kurzzeitig sogar als Preisträger der Fields-Medaille gehandelt worden war. Auch wenn aus diesem Traum aller Mathematiker nichts wurde, konnte er stolz auf das von ihm Erreichte sein. Er ließ den Blick durch sein Büro wandern und schloss dann die Augen.
Ich bin in der zweiten Phase, dachte er nochmals. Gott sei Dank!
*
„Ein Experiment?“ Die Assistenzärztin Eva Bauer saß an dem polierten Besprechungstisch aus Eichenholz und blickte ihr Gegenüber aus braunen Rehaugen an. Ihre Halsvenen pulsierten. „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.“
„Aber natürlich“, antwortete der Arzt, an dessen Kittel ein Namensschild mit der Aufschrift Prof. Dr. Krüger, Chefarzt der Psychiatrie prangte. „Herr Weinmann wird einer speziellen Therapie unterzogen. Wir nennen es nur das Experiment.“
„Was bedeutet das?“
„Herr Weinmann ist ein besonderer Fall.“ Krüger lehnte sich zurück, legte seine Ellbogen auf die Armlehnen und faltete seine Hände. Dann fuhr er fort: „Er ist – oder vielmehr war – ein herausragender Mathematiker, der äußerst erfolgreich auf dem Gebiet der algorithmischen Zahlentheorie geforscht hat.“
„Das sagt mit nichts.“ Eva zuckte mit den Schultern. In der Vorlesung, die sie besucht hatte, waren Weinmanns Ausführungen für sie böhmische Dörfer gewesen.
„Inhaltlich müssen wir dies auch nicht vertiefen. Entscheidend ist, dass Weinmann Tag und Nacht seiner Leidenschaft – der Mathematik – gefrönt hat und darüber sich selbst vernachlässigt hat. Er rauchte Kette, trank zu viel Kaffee und übernachtete immer häufiger in seinem Büro. Eines Morgens fand ihn seine Frau auf dem Boden seines Büros liegen. Er war unter Bergen von fachmathematischen Publikationen begraben, zitternd und zusammengekauert wie ein Embryo.“
Eva runzelte die Stirn. „Workaholic?“
„Richtig, völlig überarbeitet. Und deshalb hat sich seine Frau an uns gewandt.“ Der Chefarzt beugte sich nach vorn und griff nach einem in zwei Pappdeckeln eingefassten Papierstoß, der auf dem Besprechungstisch lag, und reichte ihn ihr. „Hier, seine Patientenakte.“
Nach einer Übersichtsseite mit personenbezogenen Daten zu Weinmann fand Eva chronologisch sortierte Arztberichte mit Diagnosen und Handlungsempfehlungen, Stellungnahmen von öffentlichen Ämtern und Briefe von Weinmanns Frau an die Klinik. Mit jeder Seite, die sie las, glühten ihre Wangen mehr.
„Das ist …“, stammelte sie. „Das ist ungeheuerlich.“
Sie ließ die Akte auf ihre Knie sinken und starrte an die gegenüberliegende Wand, an der gerahmte Urkunden hingen.
„Warum?“ Krüger hatte sich erhoben und stand mit dem Rücken zu ihr an einem Wandschrank, in dem sich eine Espressomaschine verbarg, und fingerte eine Tasse aus dem oberen Regalbrett. „Weinmann fühlt sich wohl und das Ganze ist zudem wissenschaftlich höchst interessant.“
Eva erschauderte ob Krügers Begründung. Nur mühsam gelang es ihr, die Stimme zu bändigen. „Er ist Ihr Versuchskaninchen“, stieß sie hervor.
„Mit der Billigung seiner Frau“, konterte Krüger. „Außerdem haben sowohl das Gesundheitsministerium als auch alle lokalen Behörden ihr Einverständnis zu dieser Art der klinischen Forschung gegeben. Und nochmal: Weinmann ginge es erheblich schlechter, wenn er wüsste, in welcher Situation er sich nach seinem Zusammenbruch tatsächlich befindet.“
„Aber Sie gaukeln ihm eine Realität vor, die nicht existiert. Seine Vorlesungen, sein Büro, seine Besprechungen und alles drum herum: Nur gelogen. Stattdessen …“ Sie brach ab.
„… erhält er aufgrund seiner Psychose Medikamente, die ihn glauben lassen, er sei noch ein Professor im Dienst, statt ein Patient in einer psychiatrischen Klinik“, beendete Krüger Evas Satz. Zischend bearbeitete die Espressomaschine seinen Wunsch. Er entnahm die Tasse, nippte kurz und wandte sich zu Eva.
„Ich gebe zu: Das Setting“ – Krüger vollzog mit seiner freien Hand eine halbkreisartige Bewegung – „ist durchaus aufwändig. Wir benötigen einen separaten Bereich in der Klinik, in denen Weinmanns Büro und sein Vorlesungssaal untergebracht ist, und nicht wenige Statisten, die hier nach einem festen Drehbuch mitwirken. Aber Weinmann bedarf dadurch weniger Medikamente und der Gewinn für die Wissenschaft ist enorm.“
Eva vermutete, dass Krüger mit „der Wissenschaft“ vorrangig sich selbst meinte. Bevor sie etwas entgegnen konnte, sah dieser sie aus geweiteten Augen an.
„Frau Bauer, das kann uns bis nach Stockholm bringen.“
Eva blickte aus einem der bodentiefen Fenster des geräumigen Büros und ließ Krügers Satz auf sich wirken.
Das war also sein Ziel, dachte sie. Ein Ziel, das fernab des hippokratischen Eids lag, den auch er vor langer Zeit abgelegt haben musste. In seinem Ausdruck blitzte ihr der Drang nach Ruhm, Aufmerksamkeit und finanzieller Unabhängigkeit entgegen.
Statt der Fields-Medaille für Weinmann der Nobelpreis für Krüger.
Irgendwie passend, dachte Eva und hätte beinahe gelacht.
In diesem Moment klopfte es an Krügers Bürotür und seine Sekretärin streckte den Kopf hinein.
„Herr Professor?“, flötete sie. „Herr Weinmann hat angerufen. Er hat anscheinend Probleme mit seinem Blutdrucksenker. Könnten Sie nach ihm schauen?“
„Selbstverständlich“, sagte Krüger. „Ich komme sofort.“
Er stellte die Tasse in den Wandschrank zurück. Auf dem Weg in Richtung Tür blickte er Eva schelmisch an.
„Stockholm“, flüsterte er noch einmal und ließ sie allein.
Alexander Willms, Jahrgang 1980, ist promovierter Mathematik- und Informatiklehrer aus München. In seiner Freizeit beschäftigt er sich unter anderem mit Digitalisierung und Datenschutz sowie deren gesellschaftlichen Auswirkungen. Seine Kurzgeschichten greifen außerdem Themen aus dem schulischen und universitären Kontext auf.
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