Die Pille danach…

David Ziermann für #kkl22 „Bewusstheit“




Die Pille danach…

„Die Menschheit zerfällt in vier Teile“, setzte er den Stift nun endlich ans Papier, darüber er ihn, ob der Gedankenversunkenheit, gleich dem Damoklesschwert, eine Weile untätig schweben ließ. „In einem jeden Menschen findet sich eine Paarung wieder, diese wiederum ergibt sich aus der Wahl zweier Eigenschaften, welche sich aus folgenden Gegensätzen entnehmen lassen: Apathisch/empathisch, gleichwie geistfrei/geistreich.“ Lange Zeit war er an diesem Gedanken gesessen, dessen Aussagekraft er schließlich für ausreichend genug empfand, ihn in seinem Abschiedsbrief festzuhalten. „Man muss verstehen, dass das Groß der Menschheit die Voraussetzungen für jene Gruppe erfüllt, deren Dasein `Arschlöcher´ wohl treffendste Bezeichnung ist.“ Kaum zu Blatt gebracht, strich er letzteres, und war darüber im Ärger, dass es ihm abermals nicht gelang, Beherrschung zu wahren. Weitaus stärker als der Frust über den eigenen Kontrollverlust jedoch war jener, den er über den Gegenstand seines Schreibens empfand. Es mochte, wie so Vieles, widersprüchlich erscheinen, doch seine ausgeprägte Misanthropie entsprang eigentlich einer Art Liebe zu den Menschen. In seinem eigenen taxonomischen Modell ließe sich unser Freund als Paarung empathisch/geistreich beschreiben. Ebendiese Kombination war seines Schicksals Verhängnis, ließ seine ausgeprägte Empfindsamkeit doch keinerlei Blindheit gegenüber dem allgegenwärtigen Leid zu, während sein Intellekt ihm täglich die ausweglosen Verhältnisse, deren Verstrickungen dem Weltschmerz Ursache waren, in aller Deutlichkeit vor Augen führte. Namentlich dauerten ihn jene, deren Unheil von der Ignoranz und Gehässigkeit solcher ausging, die er eben als Arschlöcher bezeichnet. Da es sich nun aber so verhielt, dass die Anzahl der Unterdrückenden jener der ungerecht Leidenden weit übertraf, sah er sich gezwungen, sich den Umständen entsprechend eher als Misanthrop, denn als Philanthropen zu bezeichnen, wenngleich er diesem Typus nicht vollends entsprach. Bemerkenswert dabei schien ihm, wie selbst empathische Menschen anderen schmerzlich werden konnten. Dabei gedachte er etwa jener fürsorglichen Leute, die in Ermangelung ausgereifter Reflexionsgabe Moralvorstellungen nachhingen, deren Predigern sie blind folgten. In ihrer wohlgesinnten Dummheit waren sie etwa „für die Familie“ marschiert, hatten Initiativen ins Leben gerufen, Neigungen zu „heilen“, die keinerlei Heilung bedurften und all das im Glauben, Gutes zu tun. Solchen aber, die aus einer „apathisch/…“-Paarung hervorgingen, mochte er momentan nicht nachsinnen. Sie waren es, die ihn zu seinem Entschluss getrieben, dafür er nun letzte Vorbereitungen traf. „Zählt man nun alle möglichen Kombinationen, die sich aus diesen Gegensätzen ergeben können, gewinnt man die eben erwähnte Erkenntnis“, setzte er seinen Text fort. Lange hatte er mit sich selbst gerungen, ob ein persönlicher Brief diesem formell, akademisch anmutenden Worten nicht vorzuziehen sei, doch in Anbetracht seines Vorhabens, das noch unverrichtet vor ihm lag, zog er eine sachliche Erklärung den Sentimentalitäten vor. Er wollte nicht, dass der Eindruck entstehen könnte, seiner letzten Tat wäre eine launenhafte Impulsivität vorausgegangen. Als er hier so saß, seine letzten Worte schreibend, war es ihm, als hätte er sich schon viel eher zu diesem Entschluss durchringen sollen. Was er die vergangenen Monate als gründliches Überlegen angesehen hatte, empfand er nun als Zögern, sein langwieriges Abwiegen moralischer Komplexitäten war ihm plötzlich nichts als schwächliche Unentschlossenheit, da er sich kurz vor Verrichtung seiner Unternehmung wiederfand. In einer Recherche, die entgegen erster Erwartung kürzer ausgefallen war, als gedacht, hatte er das Stammlokal der Gruppe X ausmachen können. Im Grunde waren dieser Vereinigung Statuten eine vollständige Auflistung jener Faktoren, die ihm erst Magengeschwür, ferner Depression und schließlich vollständige Hoffnungslosigkeit zuteilwerden ließen. Dabei war sein Leiden nicht einmal das eines direkt Betroffenen, sondern das Leid eines mitfühlenden Dritten. Er war kein Ausländer, der seiner Herkunft wegen Hetze fürchten musste, keine Frau, die unter toxischer Geschlechterstereotypen litt, auch empfand er keine sexuelle Zuneigung zum eigenen Geschlecht, darüber ihm aggressive Ignoranz begegnet wäre. Und dennoch war es ihm, als trüge er diese Lasten mit, die sich mit jedem Hasskommentar den er zu lesen bekam summierten, ohne dabei je Hoffnung auf Linderung zu erfahren. „Ein Mensch vermag es, liebenswert zu sein, sich als teilnehmende, gütige Existenz zu erweisen, Rücksicht, wie Weitsicht in sich zu tragen. Arschlöcher (alternative Bezeichnung folgt) haben sich ihrer Existenzberechtigung beraubt. Sie zerstören ihr Umfeld in Mensch und Natur.“ „Ist diese Phrasierung zu radikal? Immerhin wird die Tat, deren Erklärung dieses Schreiben sein soll, nicht minder radikal ausfallen.“ Seine Überlegungen, von jenem Gedanken angestoßen, gipfelten im Entschluss, sich des Stücks Papier, darauf er zu schreiben begonnen hatte, zu entledigen. Es würde diesen Idioten nur dabei helfen, Ziele für mögliche Gegenschläge zu suchen. Im Übrigen, dachte er, verfassen nur irrsinnige Psychopathen manifestartige Schriften, und was er zu verrichten gedachte entsprach irrationaler Gehässigkeit keineswegs. „Wenn man bedenkt, dass ein statistisches Menschenleben eine Million Liter Wasser allein beim Duschen verbraucht und 36 Tonnen Müll verursacht“, sagte er sich, „helfe ich nicht nur liebenswerten Menschen, sondern auch der Umwelt!“ Lag es an der aufkommenden Nervosität, oder blitzte sein zynischer Sarkasmus ein letztes Mal auf? Woran es auch gelegen, das kurze Aufschmunzeln in seinem Gesicht war deutlich zu vernehmen. Er erhob sich also, wandte sich dem Waschbecken zu, darüber er das Blatt Papier mit einem Streichholz anzündete. Nachdem es vollständig abgebrannt war, spülte er die kleinen Reste mit etwas Wasser hinunter und fand sich wieder an seinem Fensterplatz ein. Der Geruch nach Verbranntem war deutlich zu vernehmen, als er leeren Blickes in die Ferne sah. Bald würde es Abend geworden sein, dann fänden sich X’ Mitglieder auf den Sitzgarnituren vor ihrem Lokal ein. Als böten sie sich selbst zur rudimentären Evolutionsabfallsbeseitigung an, pflegten sie an lauwarmen Sommerabenden im straßenseitig gelegenen Außenbereich ihr Bier zu sich zu nehmen. Das Auto hatte er bereits letzte Woche gebucht. „Bei Unentschlossenheit“, hatte er gemeint „kann ich damit immer noch einen netten Waldausflug unternehmen.“ Doch die Bedenken letzter Woche lagen ihm fern. Er vernahm ein merkwürdig anmutendes Kribbeln, das mit fortschreitender Stunde seltsame Ausprägung erreichte. Auch an die Tabletten, die er folglich einzunehmen gedachte, lagen bereits in seiner Tasche. „Die Pille danach“, schmunzelte er abermals auf. „…hm…“. Ihm war, als wären seine Sinne auf eigentümliche Weise geschärft, wie gedämpft. Schummrig dämmerte eine Art Schwindel, der ihn berauschte, dessen Wirkung sogar noch zunahm, als er sich dazu entschloss, einen letzten Schluck Rotwein zu sich zu nehmen. Alles in ihm loderte, flammte auf, erglühte, als er das lang ersehnte Aufklingen seines gestellten Weckers vernahm. Pochenden Herzens, mit geschärften Pupillen erhob er sich, sog tief Luft in seine Lunge und stand wie elektrisiert aufgerichtet im Raum. Einen kurzen Moment gab er sich der Wirkung dieser eigenartig belebenden Gefühle hin, eh’ er wieder zu sich kam. So stand er also da, der Augenblick schien gekommen, „Möge Katharsis darin liegen“, sagte er zu sich. Er griff nach seiner Tasche, las erst Tabletten, dann Portemonnaie auf und verwahrte beides darin. Die studentische Unordnung, in der er seine Wohnung hinterlassen würde, blieb unbemerkt, als er in einem Rausch die Tür durchschritt und hinaus ins Freie trat…




David Ziermann





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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