Gebeine eines Philosophen – ein Zeitvertreib

Bernhard Horwatitsch für #kkl22 „Bewusstsein“




Gebeine eines Philosophen – ein Zeitvertreib

Wie die Sache sich zur Welt verhält
ist ja nicht das, was uns gefällt
sondern das, was daran zerschellt

Denn alles ist der Fall
und fällt dem Raume zu
mit einem großen Knall
das ist daran der Clou

Bedenken wir das Meine
denn die Sache ist nicht deine
das Zeug ist von der Leine

Denn was da ist fällt
was nicht da ist eben nicht
so ist’s zusammen gestellt
genau so ist es hin Gericht

So gerichtet mit den Dingen
muss es doch gelingen
dass wir etwas Zeit durchbringen

Die aus Zeit gemachte
Form das ist die Tat
doch nicht das was fallend krachte
und schon längst Raume lag

Was uns hier zeitlich bindet
ist nur so in der Welt
wie man es eben hingestellt
im Raume wieder findet




Romanauszug aus dem Romanprojekt „Lichtgestalt“

Kapitel 10
Interferenzen

Da saßen sie. Als hätte man einem Ferrari den Motor ausgebaut und stattdessen Pedale eingebaut. Doktor Petra Beckett hielt ihr Diktiergerät in der Hand. Die Visite war zu Ende und sie hatte nicht die geringste Erkenntnis gewonnen. Hie und da ein paar Medikamente umgestellt, ein paar diagnostische Maßnahmen eingeleitet und ansonsten? Klick, klack, klick machte ihr Diktiergerät.
„Fred Sander“, sagte sie und stockte wieder. Klick, klack, klick. Was für eine traurige Sache. Sie sah aus dem kleinen Fenster ihres Arztzimmers. Eine Wolke schob sich bedächtig vor die Sonne. Eine hellgraue Masse aus Wasser und Eiskristallen, von hier aus Zuckerwatte, sichtbar wegen des Lichtes, elastische Streuung elektromagnetischer Wellen an sphärischen Objekten, deren Durchmesser in etwa der Wellenlänge der Strahlung entspricht  und sich physikalisch beschreiben lässt. Plötzlich durchraste sie dieses Gefühl. Dieses verstörende Gefühl. Sie umklammerte ihr Diktiergerät. Nach einer gewissen Zeit fasste sie sich wieder und begann leise, dann immer artikulierter zu sprechen. „Eben beim Blick aus dem Fenster (während ich über einen Patienten nachdachte), hatte ich (um 08.00h morgens) ein Déjà-vu.  Dieses seltsame Gefühl das die Psychologen unzureichend als Erinnerungsfälschung bezeichnen, hat etwas Bedrohliches. Daher hat es in dem Film Matrix auch diese unheilvolle Bedeutung.“ Sie verstummte. Als der Film in die Kinos kam, war sie gerade Resident der Psychiatrie. Die Wahninhalte der Patienten verschoben sich. Aber das war nicht nur der Film. Den hatten ja nicht alle gesehen. Es war eher als Summe des postmodernen Cyberpunk die ungefilterte Wucht medialer Bilder. Insofern, dachte Petra Beckett, insofern passt das eben Gefühlte. Sie schaltete das Diktiergerät wieder an: „Das Déjà-vu ist ein Gefühl, das bei Vergiftung gehäuft auftritt und Strukturen im Temporallappen spielen eine Rolle. Es ist aber nicht das Gefühl eine neue Situation exakt so erlebt zu haben. Das schildert das Gefühl einfach unzureichend. Es ist eher das Gefühl von Unmöglichkeit. Die Beschreibungen der Psychologen sind aus phänomenologischer Sicht erbärmlich. Den Erklärungsversuch als Wahrnehmungstheorie man hätte eine Szene erst nicht bewusst und dann bewusst wahrgenommen woraus die Gleichzeitigkeit von Erkennen und Nicht-Erkennen entstünde, habe ich grade widerlegt, denn das Déjà-vu eben entstand beim Blick aus dem Fenster.“ Petra schaltete ihr Diktiergerät wieder ab, blickte wieder aus dem Fenster. Der kurze Tyndall-Effekt war wie das Gefühl komplett erloschen und es war auch nicht reproduzierbar. Das Gefühl so wenig, wie der Tyndall-Effekt. Sie wusste, dass auch ihre Patienten oft an diesen Gefühlen litten. Oder litten sie überhaupt? Die Nicht-Reproduzierbarkeit. Es gab frühe Experimente nach Einführung der Elekrostimulation von Julius Hitzig. Diese Deutschen! Fred Sander? Ist der nicht auch ein Deutscher? Das Problem der Brodmann-Areale, schon wieder ein Deutscher, sie sind nicht ausreichend kartiert und die stimulierten Temporallappen der armen Menschen zeigten nicht so eindeutige Ergebnisse, wie man es gerne hätte. Brodmann hatte die Gehirne von Brehms Tierleben kartographiert. Ein Fleißbildchen nach dem anderen. Petra beobachtete, wie die Wolke langsam weiterzog und ein kleines Stück Sonne freigab. Ohne Tyndall-Effekt. Sie blinzelte dennoch. Das menschliche Gehirn als Landkarte, dachte sie. Als wäre alles so einfach. Sie drehte sich wieder um, jetzt mit Blick auf die Tür ihres kleinen Arztzimmers. Diese ganze Farblosigkeit, dieses Elend. Fass dich, konzentrier dich, halte es fest. Sie schaltete ihr Diktiergerät wieder ein.
„Die Erinnerungstheorie ist unzureichend, denn das Gehirn speichert keine Bilder ab wie ein Datenträger. Bleibt noch die Theorie der Fehlleistung. Insofern unzureichend, weil sie ja auch bei gesunden Menschen vorkommt. Schon Jaspers differenziert das Erlebnis des Déjà-vu als etwas anderes, als die Erinnerungsfälschung bei der Schizophrenie (wo sie häufig vorkommt).“

Klick, klack, klick, Petra stand auf und ging zum Regal. Nicht viele Bücher hier, ein paar waren ihr aber wichtig, wollte sie immer in ihrer Nähe, so die allgemeine Psychopathologie – wieder ein Deutscher  – hier in der Übertragung ins Englische. Sie schlug die Seite nach. Viel stand da nicht. Zu wenig, aber wenigstens sauber beobachtet. Im Gegensatz zu dem, was sie in der Visite gesehen hatte. Der spätmoderne Arzt hat gar keine Zeit mehr, zu beobachten. Das taten die Pfleger. Aber die wenigsten von ihnen konnten sehen. Petra setzte sich wieder und da kam ihr ein Gedanke, wow. Sie lächelte. Der Gedanke war verwegen. Aber warum nicht? Sie müsste mit Jonathan reden, Doktor J.K. Arnold, der abgedrehte Hippie-Kapra-Physiker und Buddhist. Sie hatte ihn lange nicht mehr gesehen. Wäre eine Gelegenheit. Sie würde auch gerne wieder mal was kiffen. Das waren Zeiten, dachte sie. Gott, wurde sie alt? Sentimental, Reminiszenzen? I am disgusted with myself. Okay, dachte sie. Weiter im Text, lass dich nicht aus dem Konzept bringen, alles der Reihe nach. Also: Sie schaltete erneut das Diktiergerät ein. Klick, klack, klick, und die Sonne im Rücken (die Wolke hatte sie wieder ganz freigegeben und ein warmer Strahl drang durch das Polyester ihres Arztkittels auf ihren Rücken.  
„Ich würde als vierte Theorie eher behaupten, dass das Déjà-vu ein supramentales Ereignis darstellt.  Wir leben in parallelen Universen deren Dimensionen aufs Engste benachbart sind. Eher müsste man also erklären, warum das Erleben eines Déjà-vu nicht häufiger vorkommt. Unser Hippocampus verfügt über ein sensorisches  Register, das Ultrakurzzeit-Gedächtnis. Informationen über unsere Sinnesorgane sind viel zahlreicher, als der Inhalt unseres Arbeitsgedächtnisses. Doch diese sensorischen Gedächtnisinhalte zerfallen bereits nach Zehntelsekunden wieder. Sie werden gefiltert. Ohne diesen Filter würde unser Hirn explodieren. Unter bestimmten Bedingungen (auch bei der Psychose, bei Schlafmangel, Intoxikationen) ist das menschliche Bewusstsein verändert. Der Mensch ist überwach. Diese Hypervigilanz trägt dazu bei, dass der Filter durchlässig wird. Aufgrund der Schrödinger-Gleichung kann ein Déjà-vu nicht exakt sein.“
Wow, dachte sie. Die Hamilton-Funktion. Was gäbe sie darum, in einem fMRT ein Déjà-vu zu erleben und dann die nötigen Spins – vielleicht besser ein PET. Aber weiter. Das musste sie mit Jonathan abklären, am besten bekifft. Petra grinste, wurde aber gleich wieder ernst. Den Gedanken weiter festhalten, nicht abschweifen.

 „Aber die Wellen-Dekohärenz wird aufgrund der Hypervigilanz dennoch wahrgenommen. Für einen winzigen Augenblick sehen wir also in die Kiste hinein, in der Schrödingers Katze liegt. Es ist ähnlich wie beim Doppelspaltexperiment (Problem des Welle-Teilchen-Dualismus). Der unmittelbare Kontakt mit einem parallelen Universum findet natürlich zeitgleich statt. Der Zustand der Gleichzeitigkeit der immer abläuft, erscheint uns in unserem geschlossenen Universum als zeitliche Struktur. Daher nimmt unser Bewusstsein Zeit wahr und das Vergehen von Zeit.“
Ja! Petra streckte sich. Und dann überlegte sie, ob man das Gefühl von Wehmut reproduzieren könnte. Das wäre auf der anderen Seite der Skala. Skala. Sie dachte einen Augenblick über das Wort ‚Skala‘ nach. So sonderbar. Hatte sie jetzt ein Jamai-vu? Gott, sie brauchte dringend Urlaub. Der Wahnsinn kroch in sie hinein. Jonathan hatte doch eine hübsche Yacht. Jetzt auf dem Deck liegen, die Sonne auf dem Bauch und nichts tun, gar nichts tun. Konnte sie das noch? Gar nichts tun. Egal. Jetzt galt es, etwas zu tun. Also Wehmut. Sie schaltete klick, klack, klick, wieder ihr Diktiergerät an, ihr Alter ego.
„So steht das Gefühl von Wehmut auf der anderen Skala der Gefühle. Das Gefühl des immer Verlorenen entsteht durch deutlich verringerte Vigilanz, der menschliche Geist wandert in sich umher. Der Filter ist weniger durchlässig. Schrödingers Katze ist in dem Fall tot.
Lassen wir den Filter mal theoretisch weg und gehen davon aus, dass unser Gehirn trotzdem nicht überhitzt. Es würde zu einer permanenten Überlagerung kommen und wir würden dadurch eine Superposition (wie beim Quantencomputer) einnehmen. Sri Aurobindo (integraler Yogi) bezeichnete den Zustand als supramentale Transformation. Wir könnten wie in einem Hologramm das Ganze wahrnehmen. Hugh Everetts viele Welten als überlagerten Zustand. Absolut jede mögliche Position könnte so eingenommen werden.“

Jede Position, dachte Petra. Shit. In dem Moment klingelte das Telefon.




Bernhard Horwatitsch https://www.literaturprojekt.com/

Unser Gespräch mit Bernhard Horwatitsch






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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