Andreas Kraft für #kkl22 „Bewusstheit“
Wenn es erstmal so weit ist…
Letztens saß ich an der atemberaubenden Nordsee und träumte in Gedanken vor mich hin. Warum „atemberaubende Nordsee“ hier besondere Erwähnung findet? Weil es schon mindestens zwei Jahre mein Wunschtraum war, mal wieder hin zu kommen! Aufgrund des Weltgeschehens war verreisen nicht drin und für die See muss eine besondere kosmische Konstellation vorherrschen, damit sich der Aufwand lohnt.
Optimal ist ein verlängertes Wochenende, wie es Dank den christlichen Feiertagen in den Wonnemonaten Mai sowie Juni der Fall ist. An genau diesem verlängerten Wochenende darf kein anderes Ereignis statt finden, welches unter die Kategorie „Pflichtveranstaltung“ fällt. Zwar gibt es kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung, aber 3-4 Tage Regenfreiheit wären schon wünschenswert. An der See gibt es nämlich kein festes Dach über dem Kopf, gecampt wird unterm Sternenzelt. Zudem verliert ein Aufenthalt am Meer das Prädikat „traumhaft“, wenn nicht mindestens an einem Abend ein betörender Sonnenuntergang die Sinne berauscht, so wie das Meer die Ohren. Ich finde, das ist eine recht lange Anforderungsliste für einen Kurzurlaub. Da stehen Sonne, Mond und Sterne öfter in einer Linie, wobei die Venus gerade einen Durchgang vor der Sonne hat.
Eine Anmerkung zu unserem Zentralgestirn muss ich noch loswerden. Nein, jetzt kommt keine Ode an den Klimawandel oder der kosmologische Bericht über gesteigerte Sonnenaktivität 2022, wodurch der UV-Index durch die Decke schoss. Dass ich mir Sonnenschutzkleidung mit Lichtschutzfaktor 50 zugelegt habe, erwähne ich auch nur nebenbei. Überdies habe ich angefangen, Kopfbedeckungen und Sonnenbrillen zu sammeln. Interessiert das jemanden noch? Falls ja, hier die eigentliche Anmerkung. Sonne als Garant für Sonnenbrand ist immer ganz himmlisch. Dennoch sind mir Wolken und leerer Strand lieber, als eine Unmenge an Menschen, die sich wie Robben aneinander reiben, alles mit ihren bunten Behausungen „vollpfosten“, mehr Luftdrachen als Möwen am Himmel zu sehen sind, ein extra Böllerwagenparkplatz eingerichtet werden muss, mehrstöckig.
Meer, da stopp‘ ich!
In meiner Welt ist einfach kein Raum für Massismus! Das hat nichts mit Territorialdenken oder übertriebener Freiheit5Liebe zu tun, eher mit entspannt natürlichem Verhalten. Wenn ich Menschenmassen sehen will, kann ich am Wochenende in die Fußgängerzone einer Großstadt fahren, muss nicht mal ein verlängertes Wochenende sein. Man könnte meinen, ich schweife vom Thema ab. Nein, wenn ich irgendwohin fahre, dann träume ich mathematisch wortspielend von der „Mengenleere“. Denn dann wird neben der Sonne auch Kraft getankt, so löse ich mein persönliches Energieproblem.
Nun wisst ihr, wie geschäftig es in meinem Bewusstsein ausschaut! Das ist für das Verständnis vom Folgeteil wichtig. Folgt mir einfach, aktiviert die Glocke und drückt den like button. Das war etwas für social media affine, die nicht abschalten können. Wir fahren fort, direkt an die Nordsee, zum Textanfang. Nun saß ich da. Es war so schön wie ich es mir erträumt hatte, wahrlich, die Wetter-Prognose war sogar besser als vorhergesagt. Zwar erlebte ich ihn, aber ich lebte meinen Wunschtraum nicht aus. Innig wünschte ich mir, im Hier und Jetzt zu sein. Leider genoss ich meinen Aufenthalt am Meer nicht in vollen Zügen. Warum? Ich war geistig nicht präsent. Auch ich konnte nicht abschalten.
Mein Gehirn überschlug sich mal wieder wie ein tobender Affe. Es grübelte über das Leben, über Gott und das Weltgeschehen. Der beseelte Moment wurde von Gedankenstürmen verscheucht wie von gelegentlichen Windböen an der Küste. An Wochenenden wird in der Regel nicht gearbeitet, dafür neuronaler Shitstorm verarbeitet. Gedankenmassismus-Supercomputing! Zudem machte ich Zeitsprünge gepaart mit Visionen. Was sich zunächst nach packenden Science-Fiction-Abenteuern anhört, ist in Wirklichkeit ein Quanten-Quälgeist. Entweder befand ich mich in der Vergangenheit und spielte „Hätte, hätte, Fahrradkette“ auch „Was wäre, wenn…?“ genannt. Oder ich bewegte mich in der Zukunft. Was müsste ich zeitnah erledigen, was hätte noch Zeit? Ich beging rückblickend meinen Lebensweg, überlegte gleichzeitig ausblickend, was ich zu Abend essen könnte? An diesen Gedanken reihte mein assoziativdenkendes Gehirn Anschlussfragen an. Daraus wurde eine Fragestunde, mindestens eine, die ich mit Leichtigkeit totschlug. Esse ich auswärts oder draußen? Muss ich dafür einkaufen? Reichen die Finanzen? Wie könnte ich meine Finanzen, die ich nicht habe, für mich arbeiten lassen? Wie kann ich gelassen und ich selbst bleiben, trotz passivaggressivem Einkommen? Würde ich dann mehr Zeit haben, zum Verreisen z.B.? Wie finanziere ich die nächste Reise zum Mars, eine Kolonie auf der Venus wäre überdies ein schönes galaktisches Pendant? Letzteres ist übertriebene Härte, eine Hyperbel, gewiss. Meine Gedanken sind eher durchschnittlich, wobei ein Kegeldurchschnitt mathematisch ebenfalls eine Hyperbel ist. Das erwähne ich für Menschen, die gerade überlegen, ob sie Geistes- oder Naturwissenschaften studieren sollen. Wie man sieht, ist es egal. Im Unendlichen treffen sich die Parallelen. Göttlich, oder?!
Warum ist unser scheinintellektuelles Gehirn nur so blöde? Oder sind wir zu blöde, um damit richtig umzugehen? Warum ist der Dopaminrausch im Belohnungszentrum so kurz und unser Dasein so schnelllebig? Geht es nur mir so? Warum kann ich nicht nach zwei Jahren Abstinenz ans Meer kommen und mich an genau dieser Tatsache laben? Einfach mal wunschlos glücklich in der Sonne wonnen, mich besinnungslos besonnen.
Sind wir je damit zufrieden, was wir haben? Ob man nun achtsam lebt oder in Meditation bewandert ist, uns alle ereilt die gleiche unzufriedene, geradezu depressive Verstimmung, sobald wir einen Traum realisiert haben. Oftmals ist es eher der Weg zum Ziel, der vorfreudige Flow, der uns größere Freude bereitet, als der erreichte Meilenstein selbst. Ich verrate mal, dass ich mich wie ein kleines Kind gefreut hatte, als ich die Campingsachen zusammenpackte, auch noch im Auto auf der Hinfahrt. Der erste Anblick der majestätischen See nach langer Zeit der Abstinenz hat mich zugegebenermaßen überwältigt. Ja doch, ich habe einiges aus dieser kleinen Reise mitgenommen, sogar eine literarische Erinnerung. Und dennoch wünschte ich mir, MEER da gewesen zu SEIN.
Es ist nicht verkehrt gelegentlich aus der Distanz über sein Leben zu sinnen, aber es darf keine Überhand nehmen. Ich vergaß, dass ich auf der Düne saß und ganz weit aufs Meer blickte. Die Sonne verschmolz mit dem Horizont. Ein Farbkasten wurde ins Meer fallen gelassen, alle Farben sind am Himmel verschwommen, wellende Musik spielte in meinen Ohren. Ich könnte die Szenerie endlos weiter ausschmücken. Es war ein „Goethelicher Augenblick“, der zum Verweilen einlud, weil er so schön war.
Ich verrate mal ein weiteres persönliches Geheimnis. Ein langersehnter Traum von mir ist es, mal am Meer zu wohnen. Doch im Dort und Damals auf der Sanddüne erschrak ich vor der Erfüllung dessen. Ich stellte mir vor, ich würde eines Tages tatsächlich am Meer wohnen. Würde es mir ergehen wie jetzt? Würde ich geistig ebenfalls am Meer wohnen, mich mental in dieser schönen Umgebung widerfinden? Würde es mich jeden Tag aufs Neue „flashen“ wie der erste Anblick vom Meer direkt nach der Ankunft? Ich schüttelte mich innerlich. Vielleicht schüttelte ich sogar den Kopf. Daraufhin hob ich diesen ´gen Himmel. Ich reflektierte meine ad hoc Situation wie die Meeresoberfläche die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Eine höhere Macht drückte für mich die Stopp-Taste, betätigte die Notbremse, presste den Aus-Knopf. Ich war angekommen, innerlich klickte ich auf den like button (das war unpassend, ich hasse diesen seelenlosen, digitalen Sch…).
Sicherlich kommt man im Leben eher voran, wenn man Ziele hat und seinen Träumen nacheifert, wenn man seinen Master anstrebt, als Geselle seinen Meister findet, Meilensteine der Weisen sammelt. Ausbildung statt Einbildung! Eierlegende Vollmilch-Fachkraft statt einfach nur mangelhaft… Aber sowohl Ziele wie auch Träume sind Zukunftsmusik. Was ist mit der Lebensmelodie, die zum jetzigen Zeitpunkt erschallt, on air?!
Now playing…
Apropos „Reichen die Finanzen?“ Sind die Superreichen glücklich oder bloß superreich und superunglücklich? Umringt von falschen Menschen, die ihnen des Geldes wegen wie Schlangen in den astronomischen A… kriechen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie von echten Freunden, von aufrichtiger Anerkennung und wahrer Liebe träumen.
Langsam habe ich die Befürchtung, dass sich alle Menschen so ziemlich das Gleiche vom Leben wünschen. Am wichtigsten sind wohl doch die sozialen Bedürfnisse der realen Welt, womit ich alle Facetten von Liebe meine! Gelegentlich ist es hilfreich, den Aus-Knopf statt dem like button zu betätigen, um den Kopf frei zu bekommen. Zwei Streichhölzer unter den Lidern, könnten die Augen für das Schöne dieser Welt öffnen. Denn sinnbildlich ließen sich alle Dinge abbrennen, ohne dass wir sie vermissen würden. Paradoxerweise oder auch treffend heißen Streichhölzer auf Niederländisch lucifers. Jetzt ist klar, warum unsere Spiegel der Seele die Welt durch einen finsteren Filter wahrnehmen. Aber wer zum Teufel öffnet unsere Herzen?
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Während ich Hier und Jetzt von der „atemberaubenden Nordsee“ schrieb, kreiste eine von vielen Gedankenmöwen um den Mythos: „Wenn man im Traum stirbt, stirbt man dann in Wirklichkeit ebenfalls?“ Damit schließe ich den Gedankenkreis in meinem Bewusstsein, der einen Strudel uns Unterbewusstsein und umgekehrt bildet.
Es macht durchaus Sinn, seinen Traum in real time zu leben, bevor man stirbt, besser gesagt, bevor man seinen geistesabwesenden Geist aufgibt.
Ich hoffe für meine Mitmenschen am Strand, dass ich im Traum nicht um mich schlage, gleichzeitig bete ich darum, nicht aus Versehen in den Sand gepflockt zu werden. Für Außenstehende ähnele ich stehend in Gedanken versunken womöglich selbst einem Vollpfosten, zugespitzt wie die Situation. Bestimmt gibt es auch Menschen, die mich am liebsten ungespitzt in den Boden rammen würden. Auf einen Schlag könnten alle meine Probleme gelöst sein.
PS: Wenn ich das nächste Mal von der See träume, sollte ich mich lieber darauf besinnen, dass ich gerade einen wundervollen Spaziergang durch den zugeschneiten Winterwald mache. Und da ich meinen Atem sehen kann, bin ich sogar in der Lage festzustellen, wann mir diese pittoreske Szenerie den Atem raubt.
Andreas Kraft
In Anthologien, Zeitschriften und Lyrik-Radiosendungen anzutreffen, viel öfter in der Natur. Bald gibt es also MEER!
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