Dr. Andreas Lukas für #kkl22 „Bewusstheit“
Auf dem Weg zum Bewusstsein!?
Am Beginn unserer Dekade, den 20er Jahren, begebe ich mich auf eine Reise. Ich will etwas Orientierung zum Start für die bevorstehenden Jahre finden. Zuversicht, Wünsche, Hoffnungen, Neugierde und Erwartungen begleiten mich. Wohin führt unser Weg? Was erwartet uns? Was können wir erreichen? Was wird uns gelingen? Wie werden wir leben? Was wird uns begleiten?
Ohne weiteres Zutun fällt mein Blick zurück auf die 20er vor hundert Jahren. Nach dem Desaster des vom Krieg geprägten vorausgegangenen Jahrzehnts und dem Untergang von Monarchien und Nationen stürzen sich die Menschen voller Hoffnung, Freude und Erwartung in Zeiten mit neuen, bis dahin nicht gekannten Möglichkeiten. Modernisierung und Freiheit sind treibende Kräfte. Sie locken an allen Ecken und Enden mit verführerischen Versprechungen. Größere Städte entwickeln sich zu gefragten Metropolen. Die Menschen strömen auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben dorthin. Es beginnt der Tanz auf dem Vulkan!
In meinem Innern vernehme auf meiner gedanklichen Reise leise eine Stimme von den verdrängten und vergessenen Schützengräben des furchtbaren ersten Weltkrieges: Nie wieder! Die schüchterne Stimme verhallt im betörenden Rausch der lauten 20er-Festestimmung. Melancholisch, hypnotisch und in Ekstase singen die Menschen: „Zu Asche, zu Staub, dem Licht geraubt, doch noch nicht jetzt, Wunder warten bis zuletzt“ und tanzen sehnsüchtig aus der Realität in die Scheinwelt, als ob es kein Morgen gäbe. „Du bist dem Tod so nah, und doch dein Blick so klar, erkenne mich, ich bin bereit und such mir die Unsterblichkeit.“ (aus dem Titelsong der Fernsehserie Babylon Berlin)
Mit den Eindrücken dieses Rückblicks halte ich inne an der Pforte der beginnenden 20er Jahre unserer Zeit. Es gibt eine Menge Parallelen, geht es mir durch den Kopf. Nur das inzwischen enorm gewachsene technische Niveau ist ein komplett anderes. Es eröffnet unvorstellbare Perspektiven. Zuversichtlich und fröhlich beginnen wir unsere 20er. Ich spüre die schier unendlichen Möglichkeiten. Optimismus und Erwartungshaltung begegnen mir mehrfach an diesem Anfang eines vielversprechenden Jahrzehnts.
Und dann kommen die Nanos.
Aus dem Nichts, ohne Vorwarnung!
Unvorbereitet treffen sie auf uns,
wirbeln alles durcheinander.
Unser Alltag, nichtgewohntes Navigieren.
Normales auf Distanz verbannt.
In kürzester Zeit erobern sie den Globus.
Unsicherheit und Furcht machen sich breit.
Was wird aus unserer Befindlichkeit?
Wo wird unser Leuchten bleiben?
Was wird uns noch Hoffnung geben?
Was für ein Leben werden wir führen?
Nach der Erschütterung – anders als bisher?
Was wird das Kollaterale bewirken?
Wo führen unsere Wege uns hin?
Fragen, die uns überrennen mit dem Siegeszug der Winzlinge. Sie erschüttern unsere Festungen und Gewohnheiten, in denen wir uns – so sicher geglaubt – eingemauert hatten.
Doch schon vor ihrer Ankunft konnte man so manche Erschütterungen spüren. Wenn man genauer hinhörte und hinsah, waren sie nicht zu verleugnen. Die meisten zogen es jedoch vor, Scheuklappen anzulegen oder in Vogel-Strauß-Manier nicht hinzuschauen und weiter zu tanzen auf angestrahlten, hell leuchtenden Bühnen nach dem vielgepriesenen Motto: „Weiter, immer weiter, nur nichts verpassen!“ Die Erschütterungen wie nichtbeachtete Blitze ausgeblendet. Das vordergründige Leben als Leitplanke vor Augen.
Kann es ein Reserve-Leben ohne die Liebe zu unserem Leben, zu unserem Planeten geben, wenn unsere Synapsen die Wucht der Veränderungen und Schnelligkeit nicht mehr fassen können, schwirrt es mir durch meine Gehirngänge.
Ich stehe gebannt da, vor Augen den Blick auf den blauen Ball, dessen Pole bis jetzt strahlend weiß leuchten und dessen Schönheit und weißes Licht weit ins All strahlen.
Noch – schreit etwas in mir auf!
Aber ist uns das wirklich bewusst?
Sollte der blaue Ball nicht zu unserer neuen Liebe erwachen?
Die Tage erscheinen im Licht und der Stille eines Sommers – auch wenn dieser mit Trockenheit und Hitze prahlt – so unverschämt leicht und schön. Wir verdrängen die Stille, wollen sie nicht wahrhaben und tanzen weiter unser rauschendes Fest. Wir lassen uns betören in der digitalen Euphorie nach Geschwindigkeit – zu Asche, zu Staub, dem weißen Licht geraubt und frönen ohne Unterlass dem ach so geliebten „Immer-Schneller-Höher-Weiter-Größer—Mehr“.
Die immer gewaltigere Reizüberflutung unserer 24h-Gesellschaft kriecht mir durch die Ritzen der Zwischenräume meiner Zellen. Reizökonomisch lebe ich längst über meine physischen Verhältnisse.
Coolness will ich auf Lichtinseln ausstrahlen!
Eindruck schinden!
Mich im Lichtstrahl winden!
Du bist, du wirst, du musst,
du sollst, du willst, du brauchst,
du kannst, du darfst …,
dröhnt und randaliert es in meinem Schädel.
Licht schmilzt dahin!
Spuren verschwimmen!
Sehnsüchte schreien!
Mein Kompass rotiert!
Befindlichkeit ausgeblendet.
Der Norden nicht mehr einzunorden!
Der Schnelligkeit verfallen nehme ich es widerstandslos hin.
Wird das unsere künftige Befindlichkeit sein, unsere Lebenssituation ausmachen, frage ich verunsichert in die Weite des Firmaments.
Es gibt viele Anzeichen und vieles spricht dafür. Aber haben wir an der Pforte des dritten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts nicht davon geträumt und geschwärmt, dass es unsere 20er werden sollten, die wir gestalten und verwalten?
Haben wir uns nicht berauscht an den unendlichen Möglichkeiten und Chancen?
Wollten wir nicht vieles anders anpacken und umsetzen?
Und nun stehen wir (verstört!?) vor den allgegenwärtigen Fragen:
Wird es ein Morgen geben?
Wenn ja, wie wird dieses Morgen aussehen?
Wir wissen es nicht!
Wollen wir es vielleicht gar nicht wissen?
Erkenntnisse und Möglichkeiten dazu hätten wir genug.
Nur wo bleibt das Bewusstsein?
Irgendwann werden unsere Augen wach, werden wir entsetzt staunen, was wir sehen. Lange ausgeblendet, getrübter Blick wollte nicht wahrhaben, was sich anbahnte. Irgendwann wird sich ein Wehklagen über vertane Möglichkeiten ausbreiten, den Ring der Rettung zu ergreifen und nicht zu ersticken in toxisch-heißer Luft. Irgendwann wird unsere Bewusstheit reifen, den Weg zum Bewusstsein ermöglichen. Irgendwann werden wir die Wachheit dazu erreichen! Irgendwann!?!
Eine Tatsache wird jedoch Bestand haben, grenzen- und zeitlos – zeitlos im traditionell zeitlosen Sinn – da bin ich mir unerschütterlich auch für eine Nach-Pandemie-, Nach-Kriegszeit oder was auch immer uns erwartet sicher:
Wir alle werden lachen und weinen, strahlen, uns freuen, jammern und empfinden in der gleichen Sprache und werden dies auch morgen, übermorgen und danach tun. Ein uns alle verbindendes Element!

Dr. Andreas Lukas, aufgewachsen im Saarland nahe der französischen Grenze, lebt in Wiesbaden.
Er ist tätig als Autor und freier Journalist und Mitglied der „Gruppe 48“. Sein zweiter Roman „Die ungleichen Gleichen“, Begegnung zweier junger Menschen, sie auf dem Lande aufgewachsen, er Flüchtling, führte ihn mit dem „Pianist aus den Trümmern“ Aeham Ahmad zusammen. Daraus entstand das Buch „TAXI DAMASKUS – Geschichten, Begegnungen, Hoffnungen“, erschienen 2021.
Andreas Lukas erreichte bei den Planet Awards 2019 Platz 4 bei „Künstler des Jahres“, Platz 5 bei „Autor des Jahres“ und Platz 6 bei „Buch des Jahres“. Zum Berliner Literaturpreis „Wortrandale 2019“ war er für den Radio-Sonderpreis nominiert. Bei „Literatur zwischen den Jahren 21/22“ von radio889fmkultur erreichte er die „Best of …“. Zur „Literatur des Monats“ von radio889fmkultur hat er die Favoritenliste April 2022 erreicht.
Publikumspreis beim Hildesheimer Literatur-Wettbewerb 2022
Publikationen:
- Gemeinsam eins! Together one!, CD-Album – Ideen, Gedanken und Menschen mit Akkorden, Tönen, Liedern und Worten zusammenführen, hrsg. von Aeham Ahmad u. Andreas Lukas (s. Gedicht auf Seite 61)
- Aeham Ahmad/Andreas Lukas: TAXI DAMASKUS – Geschichten, Begegnungen, Hoffnungen, 2021
- Andreas Lukas: Die ungleichen Gleichen, Roman, 2018
- Andreas Lukas: Nie mit, aber auch nicht ohne, Roman, 2017
- Andreas Lukas: „WELTEN-GEWITTER“ zur BUCHBerlin
Präsentation auf der BuchBerlin am 17./18. September 2022
WELTEN-GEWITTER, Spiegel unserer Zeit, romanhafte Erzählungen, 208 Seiten, ISBN 978-3-98503-102-3
Mitglied „Die Gruppe 48“, Juror,
Preisträger des Hildesheimer Literatur-Wettbewerb 2022, Publikumspreis
Kontakt für Lesungen, Auftritte oder Bestellungen: dr_lukas@t-online.de
Web-Seite: www.andreas-lukas.eu
Interview mit Dr. Andreas Lukas und Jens Faber-Neuling HIER.
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