Dualismus

Isabelle Wirth für #kkl22 „Bewusstheit“




Dualismus

Er gibt mir die Hand, als ich rein komme. Sie ist leicht feucht, aber fein temperiert. Die Tür hat er mit einer solch einstudierten Präzession geöffnet, dass kein Zweifel darüber bestehen bleibt, dass er sich selbst zur vorsichtigen Maschine konditioniert hat, deren Abläufe punktuell und zielsicher passieren. Ich wische mir unauffällig die berührte Fläche meiner Hand an den Seiten meines Oberschenkels ab, genau da, wo meine Hose am engsten sitzt, also fast wie eine Kompromisslösung an Berührung. Ich mag keinen Körperkontakt mit fremden Menschen. Er könnte mir sicher sagen, warum.

In der Mitte des Zimmers stehen zwei gemütliche Sessel, die als offene Einladung zur Entspannung und unausweichlichen Selbstentblößung dienen. Einer wurde mir zugeschrieben, auf den anderen setzt er sich selbstverständlich hin. Ist es doch er, der die Macht verteilt. Auch wenn wir auf einer Augenhöhe sitzen, die augenscheinlich dieselbe Ebene suggeriert, weiß ich, dass er mich nur durch Worte rauf und runter schieben kann, wie auf einem alten Bürostuhl. Ich muss mich gut festhalten, denn sonst falle ich runter. Mit großväterlicher Vorsicht stellt er mir Fragen, bringt mich dazu, mich selbst zu öffnen, vor ihm zu entblößen, meine Kindheit zu sezieren, mein Umfeld zu diskreditieren und mich innerlich so zu massakrieren, dass ich am Ende der Zeit die großflächig zerfetzen Teile meiner Selbst zusammensammeln darf. Ich halte sie vorsichtig in meinen Armen, während wir den Termin für nächste Woche vereinbaren. Der Mann weiß, was er tut.
Das Prozedere wiederholt sich jede Woche, dieser Mann nimmt meine Seele, stülpt sie von innen nach außen wie ein Paar dreckige Jeans in der Waschmaschine, schleudert mich hin und her, aber am Ende fühle ich mich gereinigt. Irgendwann wird der Masochismus meiner eigenen Katharsis immer weniger effektiv, die Peitsche schlägt immer schwächer, bis sie zu einem kaum spürbaren Streicheln wird. Nur die Gänsehaut auf meinen Armen verrät mir, dass sie da war. Er sagt mir, das was nun übrig bliebe, wäre mein inneres Kind. Wenn ich ihm erzähle, dass ich den Stillstand so sehr hasse und das rastlose Laufen in das Unbekannte der einzig annehmbare Zustand für mich ist, dann erklärt er mir, dass das Kind in mir drin Fernweh hat. Vielleicht sollte ich nach Italien reisen und das Kind solange mit Pasta und Eis füttern, bis es ganz fett und träge wird und nur noch schlafen will. Sage ich ihm, dass ich Probleme habe einzuschlafen und die Nacht im Dunklen mir zu abstrakt ist, sieht er darin das Kind, das sich nach einem warmen Licht und einer straff um die Schultern gewickelte Decke sehnt und natürlich nach dem mütterlichen Kuss auf die Stirn. Er macht uns miteinander bekannt.
Dieses innere Kind ist mir suspekt, und je mehr er es benennt, desto fremder wird es mir. Wenn ich in den Spiegel blicke, dann sehe ich nur mich. Die Lachfalten neben meinen Augen sind Zeuge der Jahre, die ich damit verbracht habe, mich zu einer erwachsenen Person zu formen, selbst wenn der Ton oft zu hart war und lange gedauert hat, um zu trocknen. Irgendwas ist ja dabei rausgekommen und das bin ich. Durch die Zeit sind Risse in mir entstanden, die immer tiefer und breiter werden, aber ein Kind ist doch glatt.Durchgebeutelt von diesen Gedanken stehe ich nackt vor dem Spiegel und betrachte meinen Körper mit einer Mischung aus Neugierde, Dankbarkeit und Ablehnung. Plötzlich sehe ich etwas aus meinem Bauchnabel herausstehen, das einem kleinen menschlichen Fuß ähnelt. Mit mehr Gewaltanwendung als geplant, ziehe ich fest daran, bis ich irgendwann fast zerfetze und in meinem eigenen Blutbad zu ertrinken drohe. Tief durchatmend fühle ich mich schlagartig besser, fast leer und öffne meine zuvor geschlossenen Augen. Das Blut ist weg, ich wieder heil, aber vor mir steht ein kleines Kind, das mich großäugig anblickt. Das Alter ist für mich undefinierbar, aber so geht es mir meistens bei Personen unter zwanzig Jahren. Wir begrüßen uns formell mit einem kurzen, aber kräftigen Händeschütteln, das Kind hat den perfekten Druck und etabliert somit gleich Dominanz. Wortlos fängt es an, durch meine Wohnung zu streifen, bleibt dann in der Küche stehen, schnappt sich die offene Flasche Rotwein und nimmt einen tiefen Zug, der mehr wie eine lebenswichtige Inhalation wirkt als ein Schluck. Ich wundere mich über das Kind, aber noch mehr, als es dann meine Zigaretten neben dem Fenster entdeckt, sich eine aus der zerknitterten Packung fischt und anzündet und genau wie ich auch immer stillschweigend und die Nachbarn beobachtend raucht. Das Kind wird mir immer sympathischer.
Abends bin ich mit Freunden verabredet, wir wollen zu einem Konzert gehen und danach in ein paar Bars. Das Kind nehme ich einfach mit, will es aber niemanden vorstellen und keiner fragt danach. Es verhält sich gleich wie ich, braucht den Alkohol und das Nikotin in einer schön ausbalancierten, dichotomischen Einheit, und immer wieder entgleitet ihm die Stimme ein wenig. Mir auch. Die Musik fährt mir bis tief in den Körper hinein und ersetzt meine Muskeln mit Tönen, sodass ich von tief stimulierenden Zuckungen geleitet werde, die man tanzen nennen könnte. Das Kind tut es mir gleich, unterbricht aber immer wieder, um sein Glas aufzufüllen. Die Flasche scheint unendlich voll zu sein. Meine Freunde schwirren wie abwesende Geister um uns herum, sprechen nur mit mir, aber wir feiern den Exzess mit klirrendem Kristall. Einer weint um seine vergangene Jugend, richtet sich dann aber wieder schnell auf und verschwimmt mit der samtenen Umgebung.

Irgendwann merke ich aber, dass auch wenn das Kind wild neben mir zur Musik tanzt und unsere Bewegungen einer synchronen Theatralik folgen, die anderen Menschen es nicht sehen können. Es ist also mein kleines Geheimnis. Da ich das tiefe Verlangen nach der einsamen Zweisamkeit mit mir Selbst hatte, nehme ich es an der Hand und führe es nachhause. Auf dem Weg zur Wohnung müssen wir stehen bleiben, weil das Kind und ich Hunger haben. Nicht schwesterlich, aber interpersonal teilen wir uns eine Portion Pommes und tauchen sie mit demselben Enthusiasmus in das Ketchup ein. Wir wischen uns den Mund mit einer gemeinsamen Serviette sauber. Dann gehen wir endgültig heim. In meinem Bett liegend und das Kind schlafend auf der Couch wissend, von der Intimität dieses Umstandes geschützt, denke ich Folgendes. Mein inneres Kind raucht, es säuft und tanzt sich in Bars die Füße wund. Es ist erwachsen geworden. Es ist zu mir geworden.







Isabelle Wirth
„Ich wurde 1997 in Innsbruck, Tirol geboren und bin dort auch aufgewachsen. Nach meiner Matura an einer HBLA im Jahr 2016, habe ich für zwei Jahre in Eastbourne, England gelebt und gearbeitet. 2018 bin ich dann nach Wien gezogen, wo ich auch heute noch wohne, und habe dort das Bachelorstudium der Theater,- Film und Medienwissenschaft erfolgreich absolviert. Seitdem ich schreiben kann, betreibe kreatives Schreiben in den unterschiedlichsten Formen. Davor war ich einfach eine Geschichtenerzählerin.“








Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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