Dorothee Seemann für #kkl22 „Bewusstheit“
Das Wesen in meinem Kopf und ich
„Ist dir bewusst, dass du ein schlechter Mensch bist?“, fragt mein Gehirn und rückt sich die Nickelbrille auf seiner spitz zulaufenden Nase zurecht.
Empört schnappe ich nach Luft und wende den Blick von der RyanAir- Buchungsbestätigung auf meinem Laptop ab. Dabei drängen sich eine noch ungeöffnete Bestellung von Shein und ein Starbucks-Becher in mein Sichtfeld. Das Gehirn hebt vielsagend eine Augenbraue und glättet lässig eine nicht vorhandene Falte auf seinem Business-Kostüm. „Warst du nicht vor Kurzem noch bei Fridays for Future?“
Ich fahre mit einigen energischen Mausklicks den Computer runter und presse die Lippen zusammen.
„Ich weiß.“
„Umso schlimmer! Trotz deines scheinbar funktionierenden Gedächtnisses entbehrt dein Verhalten häufig jeder Logik.“
„Ich bin eben immer noch ein Mensch. Aber bin ich wirklich so abgrundtief schlecht? Immerhin habe ich bisher… noch keinen Krieg angezettelt oder jemanden ermordet.“
„Herzlichen Glückwunsch! Und dafür soll ich dir jetzt die moralische Absolution erteilen?“
Mein Gehirn greift in seine (Anmerkung des Gehirns: vegane!) Lederhandtasche und wedelt mit einem Stapel Papier vor meinem Gesicht herum. „All diese Petitionen hast du nicht unterschrieben; wegen ignoranter, egozentrischer-“ Sein Magen knurrt.
„Moment.“ Es beugt sich erneut über die Tasche und holt einen veganen Proteinriegel hervor. Hastig löst es die (Anmerkung des Gehirns. Kompostierbare!) Verpackung und gräbt seine Zähne in den Inhalt. Dann zeigt es anklagend mit dem angebissenen Riegel auf mich und schmatzt. „Wo war ich?“
„Die Moralpredigt.“
„Mmh. Zumindest hörst du akustisch, was ich sage. Nur leider,“ es legt den Kopf schief und macht eine dramatische Kunstpause, „hörst du mir nie wirklich zu.“
„Wie bitte?“
Mein inneres Gegenüber senkt Blick und Stimme. „Ich habe das Gefühl, dass du mich nicht ernst nimmst.“
Ich öffne den Mund um reflexartig etwas zu erwidern, schließe meine Lippen aber unverrichteter Dinge wieder, wobei ich mich wie ein Goldfisch fühle.
Mein Gehirn nimmt die Nickelbrille ab und beginnt damit, die Gläser sorgfältig an seiner rüschenbesetzten Bluse zu säubern.
Ich kenne es mittlerweile gut genug, um den verkrampften Griff seiner Hände nicht zu übersehen. Klar, meine innere Beratungsinstanz treibt mich regelmäßig durch exzentrische Selbstgefälligkeit und die Zurschaustellung von moralischer Überlegenheit in den Wahnsinn…Aber diese Angelegenheit ist ihr wohl wirklich wichtig.
„Es tut mir leid,“ gebe ich zerknirscht zu und bedenke die (wirklich unnötig und impulsiv getätigte) Klamottenbestellung in der Ecke mit einem beschämten Blick. „Mir ist bewusst, dass mein Verhalten oft nicht deinen moralischen Ansprüchen gerecht wird.“
Die Mundwinkel meines Gehirns zucken leicht und die verkrampften Hände lösen sich voneinander. Auch beide Augen hinter den Brillengläsern nehmen einen sanfteren Ausdruck an.
„Ich schulde dir auch eine Entschuldigung. Weißt du, manchmal vergesse ich, dass deine Aufgabe im Leben ja nicht nur darin besteht, meine Ratschläge in die Tat umzusetzen. Du lebst schließlich nicht nur hier drin, mit mir in deinem Kopf, sondern auch in der Welt da draußen. Und von allen Seiten hörst du ständig verschiedene Stimmen, die dir sagen, wie du zu leben hast. Das muss sich ganz schön überfordernd anfühlen.“
Gerührt von der plötzlichen Anwandlung von Mitgefühl meines Gehirns lege ich ihm eine Hand auf die Schulter.
„Das stimmt. Aber es ist trotzdem von existenzieller Bedeutung, dass ich mir bewusst mache, was du zu sagen hast. Deine Stimme in meinem Kopf darf nicht von dem ganzen äußeren Lärm übertönt werden. Wenn ich dich ignoriere und andere Menschen genauso handeln, sieht es sehr schlecht für unsere Spezies aus.“
Mein Gehirn und ich verharren einen Moment lang und schauen uns in die Augen. Dann räuspert es sich umständlich und strafft seine Körperhaltung.
„Ist dir bewusst, dass du manchmal zu viel nachdenkst und dabei vergisst, zu leben?“
Dorothee Seemann
geboren 2003 in Dresden
Abitur 2022
lebt in Berlin
Über #kkl HIER
Ein schöner Text. *** Und was noch schöner ist, die Autorin versteht es, einen nicht gesetzten Absatz schreibtechnisch richtig zu nutzen um die inneren Dialogfelder nicht zu zerstören. *** Für mich eine handwerkliche Selbstverständlichkeit. *** Leider wird gerade bei online Texten immer mehr die Unsitte gepflegt, nach jedem Satz eine Leerzeile bzw. einen Absatz einzuführen. *** Wegen der besseren Lesbarkeit! *** Hilfe!
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