Zauberhafter November – ein Märchen der Gegenwart

Klaus Enser-Schlag für #kkl22 „Bewusstheit“




Zauberhafter November – ein Märchen der Gegenwart

 Es war noch früh an diesem Novembertag und der Park war fast menschenleer. Nur auf einer Bank saß eine Frau von ungefähr 35 Jahren. Julia liebte diesen Park und seine Atmosphäre. Wie gerne wäre sie öfter hier gesessen, doch der stressige Alltag ließ ihr kaum Zeit zum Ausspannen. Als Krankenschwester schuftete sie oft bis zum Umfallen, doch da ihr Gehalt kaum ausreichte, arbeitete sie jetzt noch zusätzlich als Bedienung in einem kleinen Café. Ihre beiden Kinder, Jonas und Mia, benötigten zudem ihre ganze Aufmerksamkeit. Julia schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ihr Handy klingelte. Schon wieder die Oberschwester. Wegen Krankheit eines Kollegen sollte sie kurzfristig einspringen. Die ständige Erreichbarkeit, die tägliche Überflutung mit Mails, Nachrichten und Bildern gehörten zu Julias Alltag. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass ihr dieses Hamsterrad-Dasein gar nicht mehr  bewusst war. Sie musste eben funktionieren, so einfach war das.

„Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Julia blickte auf. Vor ihr stand ein alter Mann, der sie freundlich anlächelte.

„Natürlich“, erwiderte Julia und der Mann nahm dankend neben ihr Platz.

„Sie scheinen die Ruhe zu genießen“, sagte er.

„Ja, ich hätte nur gerne mehr davon“, entgegnete Julia.

Der alte Mann nickte wie gedankenverloren und sagte dann: „Leider ist in der heutigen Zeit kaum noch Platz für das Nachdenken, das In-sich-gehen, oder dem Nachfühlen der eigenen Träume. Und der November wird von vielen Menschen nicht sonderlich gemocht“.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Julia.

„Nun, früher galt der November als besinnlicher Monat. Man gedachte der Toten, aber hielt auch Zwiesprache mit sich und seinen Lieben. Die langen Abende verbrachte man mit Reden und Zuhören, man erzählte sich Geschichten, oder saß ganz einfach zusammen und genoss die Stille. Doch viele Menschen haben es verlernt, mit sich allein zu sein. Viele lassen sich lieber ständig von einfältigen Medienangeboten berieseln“.

„Sie sind ein Romantiker, nicht wahr?“, fragte Julia etwas spöttisch.

„Ein Romantiker? Warum nicht? Haben Sie nicht auch Träume oder Sehnsüchte?“

„Dazu fehlt mir die Zeit“, entgegnete Julia trocken.

Der alte Mann lächelte.

„Ach so. Sie sind sich Ihrer selbst also gar nicht bewusst. Sie betrachten das Leben von außen und denken, dass alles, was um Sie herum geschieht, nur vom Schicksal abhängt“.

„Ist es denn nicht so?“, fragte Julia etwas genervt.

„Mitnichten“, entgegnete der Mann. „Warum werden Sie sich Ihrer eigenen Person, Ihrer Wünsche und Träume nicht bewusst? Fürchten Sie sich etwa vor der Erkenntnis?“

„Hören Sie, ich muss jetzt gehen“, sagte Julia und stand auf. Doch der Mann sah sie so eindringlich an, dass sie nicht fortgehen konnte.

„Setzen Sie sich bitte wieder“, sagte der Mann. „Und beantworten Sie mir drei Fragen. Erstens: Wie geht es Ihnen mit Ihrer jetzigen Lebenssituation? Zweitens: Was wünschen Sie sich wirklich von ihrem Leben? Drittens: Was könnten Sie tun, um ihr bestmöglichstes Ziel zu erreichen?“

Julia blieb der Mund offen stehen. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, sich selbst solche Fragen zu stellen. Der alte Mann sah sie mit festem Blick an. Er strahlte eine große Vertrauenswürdigkeit aus. Julia wusste gar nicht, wie ihr geschah. Plötzlich fing sie an zu erzählen: von ihrem Leben, den Schwierigkeiten und der stupiden Routine im Beruf.

„Ich habe als Kind immer gerne gelesen und auch kleine Erzählungen und Gedichte geschrieben“, sagte sie mit etwas Wehmut. „Meine Lehrerin meinte damals, ich sei sehr begabt“.

„Und warum haben Sie dieses Talent nicht weiterentwickelt?“, fragte der Mann. „Was hält sie denn heute davon ab, diese Träume zu leben?“

Julia erzählte ihm viele Gründe, die dagegen sprechen würden, doch der alte Mann schüttelte nur mit dem Kopf.

„Das sind Ausreden. Sie fürchten sich vor dem Unbekannten, möchten keine Veränderungen. Doch wenn Sie sich Ihrer wirklich selbst bewusst werden, werden Sie anders denken und fühlen. Denn nur Bewusstes kann man ändern, nicht aber das Unbewusste“.

In der folgenden Nacht träumte Julia von dem alten Mann. Er saß auf jener Parkbank und sie reichte ihm einen ganzen Stapel mit Manuskripten. Er las und las und nickte zustimmend mit dem Kopf.

„Sie haben wirklich Talent“, meinte er. „Sie sollten es auf jeden Fall versuchen“.

Am Tag darauf darauf durchstöberte Julia im Keller alle Kisten nach Schulheften und Schreibmappen. Und wirklich: Es fanden sich zahlreiche Gedichte und Erzählungen, welche sie, offensichtlich unbewusst, noch aufgehoben hatte.

Zwei Tage später saß Julia wieder frühmorgens auf der Parkbank. Sie hatte ihre Hefte dabei und kam sich schon lächerlich vor, als plötzlich der alte Mann vor ihr stand.

„Wie ich sehe, haben Sie Ihre Träume noch nicht ganz über Bord geworfen“, sagte er schmunzelnd. Alles geschah nun wie in Julias Traum. Der Alte las die Erzählungen und nickte zustimmend.

„Sie werden Ihren Weg machen. Ganz bestimmt“, meinte er und strahlte Julia an. „Sie müssen es nur wirklich wollen“.

Sie war verwirrt und wusste nicht, was sie sagen sollte. Doch der alte Mann hatte ihr Mut und Zuversicht gegeben, sodass sie die Erzählungen an diverse Verlage schickte. Nicht genug, sie schrieb auch Neues und fand immer größeren Spaß dabei. Es war, als ob sich ein schwarzer Vorhang endlich gesenkt hatte, der ihr die Sicht auf ihre Person, ihre Träume und Sehnsüchte, über so viele Jahre hinweg genommen hatte.

Was der alte Mann prophezeit hatte, trat wirklich ein. Sicher, der Anfang war sehr schwer und Julia musste etliche Absagen hinnehmen. Doch dann zeigte ein Verleger Interesse an einer ihrer Erzählungen und veröffentliche sie in einer Anthologie. Die Story kam bei den Lesern so gut an, dass Julia Aufträge für weitere Geschichten bekam.

Julias Selbstbewusstsein wuchs. In jeder freien Minute schrieb sie und bekam bald Geld für Ihre Arbeiten. Nun konnte sie den Zweitjob als Bedienung aufgeben und sich noch mehr dem Schreiben widmen. Die Kollegen verspotteten sie als „poetische Krankenschwester“, doch das war Julia egal. Sie fühlte sich zum Schreiben berufen und liebte diese Tätigkeit. Und dann – nach einigen Jahren – wurde Julias erstes Buch veröffentlicht. Sein vielsagender Titel hieß: „Mehr Bewusstheit wagen!“ Es wurde ein großer Erfolg und sie konnte nun ganz vom Schreiben leben.

Eines Tages, als Julia nach einer Autorenlesung noch zahlreiche Bücher von Fans signierte, hörte sie plötzlich eine Stimme, die sie jahrelang nicht mehr vernommen hatte und doch nie vergessen konnte.

„Nun, was habe ich Ihnen gesagt? Ich freue mich so sehr über Ihren Erfolg!“

Vor Julia stand der alte Mann. Er hielt ihr Buch in der Hand und legte es vor ihr auf den Tisch.

„Schreiben Sie einfach: ´Für einen Freund´“, sagte er leise und lächelte sie an.

Julia konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie ergriff die Hände des alten Mannes und drückte sie.

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll“, sagte sie zutiefst ergriffen. „Sagen Sie mir doch bitte Ihren Namen“.

Da zwinkerte ihr der liebe Alte herzlich zu.

„War es nicht im November, als wir uns trafen? Dieser Monat, der heute gar nicht mehr so beliebt ist? Schreiben Sie einfach: ´Für meinen Freund, den November´! Damit würden Sie mir wirklich eine große Freude bereiten!“




Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,

Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)

Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,

Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen

in Anthologien.

Mehr zu meiner Arbeit unter:

https://www.klaus-enser-schlag.com/

und

https://de.everybodywiki.com/Klaus_Enser-Schlag

Interview mit Löaus Enser-Schlag und Jens Faber-Neuling HIER







Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: