Bettina Schneider für #kkl22 „Bewusstheit“
Zwischenbilanz
Sorgsam zog ich die Haustür ins Schloss. Nach der Hitze vor dem Kamin wirkte die Kühle der Nacht belebend wie eine kalte Dusche. Ein frostklarer Sternenhimmel spannte sich über mir — ein mit Abertausend silbrig funkelnden Punkten geschmücktes Firmament. Ich konnte gar nicht anders, als den Kopf in den Nacken zu legen und beeindruckt wie ein kleines Kind zu starren, mich von dem Naturschauspiel verzaubern zu lassen. Die Sterne, hell und klar, schienen zum Greifen nahe. Ich schlang den Schal um den Hals und knöpfte meinen Mantel zu und tat ein paar Schritte. Mit einem Mal zischte etwas Helles über den Himmel. Während ich noch versuchte, das Ereignis mit den Augen zu fangen und das Unerwartete zu begreifen, machte sich die zweite Sternschnuppe auf den Weg. Ein freudiges Prickeln durchlief meinen Körper. Wie bezaubernd. Sternschnuppen hatten immer etwas Wunderbares, unmittelbar Glück Spendendes an sich. Ganz egal wie alt man war. Die zweite Schnuppe beschrieb eine lange Kurve am Himmel, zog einen Silberschweif hinter sich her, ehe sie im Nirgendwo verglühte. Ihr Weg ließ mir genug Zeit für meinen größten Wunsch: Frieden und ein Ende der Krisen. Diese Dinge waren es, so oft hatte ich mich damit beschäftigt, dass die Wünsche wie auf Knopfdruck aus mir herauspurzelten: das Ende des Krieges in Europa (damit verbunden ein Ende der Energiekrise, der Inflation), ein Stopp des Klimawandels und von Corona. Kurzum ein Leben wie vorher. Naiv, ging mir gleichzeitig durch den Kopf. Aber wünschen darf ich mir das, dachte ich trotzig. Während ich meine gewohnte abendliche Runde ging, nur ein paar Schritte, um mir die Beine zu vertreten, fragte ich mich, ob ich keinen individuellen Wunsch hatte. Etwas, was man sich für gewöhnlich wünschte, wenn man eine Sternschnuppe zu Gesicht bekam. Sollte man sich (und ich mich) gerade in einer Welt der Krisen nicht zur Abwechslung auch mal wieder ein kleines bisschen um sich selbst kümmern? Vorreiter gab es genug, trotz aller Umbrüche und Unsicherheiten strebten viele Menschen in meinem Umfeld weiterhin unbeirrt nach Superlativen. Oder verfolgten einfach nur egoistisch ihre Ziele. Also bitte einmal Spot auf mich!
Welche Wünsche hatte ICH?
Ein Kind hätte sofort ein paar Wünsche parat gehabt, dachte ich. Und wenn es nur die gedankliche Abarbeitung des kompletten Wunschzettels jetzt kurz vor Weihnachten gewesen wäre. Hatte ich mich selbst vergessen? Plötzlich fiel mir doch noch ein Wunsch ein. Ein konkreter, offengestanden leider auch materialistischer Wunsch. Aber während ich beschwingt weiterlief und dabei den Blick nicht vom Himmel löste, wollte sich keine weitere Sternschnuppe zeigen.
An diesem Abend hatte ich Schwierigkeiten einzuschlafen. Stunden nach Mitternacht wälzte ich mich noch im Bett, während mir irgendwelche unwichtigen Gedanken durch den Kopf flipperten. Nach dem Erlebnis mit den Sternschnuppen fragte ich mich, ob ich kaum noch Wünsche, so wenig Träume hatte. Ging ich dermaßen erfüllt durch das Leben oder war ich so abgestumpft? Gab es in der Lebensmitte nichts mehr zum Träumen? Wann überhaupt hatte ich das letzte Mal an meine Träume nur gedacht? Waren sie mir in der Hektik des Lebens, des Weltgeschehens, das jetzt zudem durch eine Krise nach der anderen schlingerte, gänzlich abhandengekommen? Ich weiß, wie mir als Jugendliche die Zukunft glasklar vor Augen gestanden hatte. Mit dem Tenor: Alles war möglich. Und daneben gab es die Träume: Allein die Tagträume meiner Schulzeit hätten einen dicken Sammelband füllen können. Und jetzt — wo waren sie hin?
Vor einiger Zeit hatte eine junge Auszubildende in meiner Abteilung kundgetan, wie sie sich ihr weiteres Leben vorstellte. Uns Älteren, die die Vierzig alle überschritten hatten, waren die Kinnladen heruntergeklappt, als die Achtzehnjährige wichtige Ereignisse — Arbeit, Hochzeit, Haus, Kinderkriegen —, genau in der Reihenfolge, auch noch mit Jahreszahlen belegte. Ich war verblüfft, mit welcher Selbstsicherheit und Gewissheit sie ihre Zukunftspläne in die Welt hinausposaunte. Warte nur ab, bis die Achterbahn des Lebens Fahrt aufnimmt, hatte ich damals gedacht, denn dann kommen die unerwarteten Schlenker in deine schnurgerade, minutiöse Zukunftsplanung. (Genau das bewiesen die Krisen momentan sehr anschaulich.) Ganz so einfach war das Leben nicht.
Ich drehte mich auf den Rücken, strampelte die warme Bettdecke weg und zettelte im Geiste eine Grundsatzdiskussion über mein eigenes Leben an, mit Fragen wie: Wo stehe ich? Wie ist es bisher gelaufen? Wo will ich hin? Auf die ersten beiden Fragen hatte ich bestechend klare Antworten. Alles war gut. Nein, ich wollte fair sein, alles war bestens. Das Leben hatte es bisher gut gemeint mit mir. Und je mehr ich in meinem Gedächtnis kramte, desto klarer wurde mir: Ich lag nicht weit von meinen einstigen Träumen entfernt. Natürlich war nicht alles so gekommen, wie ich mir das mit meinen Schulfreundinnen kichernd ausgemalt hatte, während wir literweise Tee, später auch Sekt oder Wein in uns geschüttet hatten. Aber das Grundgerüst stimmte. Ziemlich konsequent, wie vom Navi meiner Vorstellungen geleitet, war ich bisher meinen Weg gegangen. Unweigerlich waren auch bei mir Überraschungen eingetreten, sie hatten mich aber nie aus der Lebensbahn geworfen. Umwege führten genauso zum Ziel und rückblickend sah ich, was diese Schlenker mir alles geboten hatten. Schade, wenn ich den bunten Blumenstrauß der Erfahrungen, die mir neben der Planung begegnet waren, verpasst hätte. Und nun? Sagte mein Navi jetzt: „Sie haben Ihr Ziel erreicht?“
Nein. Und damit zu meiner dritten Frage. Wohin wollte ich? Kleine Träume gab es noch, und, ja, auch nicht gelebte Lebensträume. Nicht viele, aber es gab sie. Waren sie realistisch, jemals realisierbar? Hm. Aber je länger ich mir das Thema durch den Kopf gehen ließ, desto mehr schälte sich ein konkreter Traum heraus, trat mir sehr plastisch vor Augen. Ein Herzenswunsch, der mir bisher immer fantastisch, sehr hoch gegriffen und daher unerreichbar erschienen war … Einer, der sich als Krönung meines Daseins wie das Tüpfelchen auf das I setze könnte. Warum war ich ihn bisher nicht angegangen?
Die Zeit war reif, mich auszuprobieren. Sich darum zu kümmern, was das Herz sagte und was selbst der Verstand abnickte. Ich würde hart daran arbeiten müssen, das wusste ich bereits jetzt. Aber versuchen konnte ich es. Vielleicht ging auch dieser Traum in Erfüllung. Warum nicht?
Alles war möglich.
Bettina Schneider
Jahrgang 1968, lebt in Berlin, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit.
Sie schreibt mit Begeisterung Kurzprosa, einiges davon ist veröffentlicht.
Sie ist eine Leseratte, liebt Sonne und blauen Himmel und mag Wald-Spaziergänge.
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