Astrid Kohlmeier für #kkl22 „Bewusstheit“
Das Bild
Jeden Tag auf’s Neue zeichne ich ein Bild von mir
Mit zarten Linien skizziere ich mein heutiges Ich
Ich tauche meine Fingerspitze in die Buntheit
Zeichne das Antlitz der Gedanken und Gefühle
Male die Züge meines Wesens, meiner Gegenwart
Und so entsteht nach und nach mein Porträt
Doch betrachte ich am Ende mein Gemälde
Sehe ich nur die Ränder, nur die Peripherie
In der Mitte aber ist ein verschwommener Kreis
Der mich zutiefst verstört und beunruhigt
Aufgewühlt rufe ich nach dir und du kommst
Ich weiß du allein siehst, was mir verborgen bleibt
Du beruhigst mich, beschreibst mir meinen blinden Fleck
In den leuchtendsten Farben und endlich erkenne ich mich
Umarmung
Deine Umarmung bedeutet nicht, dass du mir die Wahrheit erzählst
Sie bedeutet auch nicht, dass du mich jemals trösten wirst
Deine Umarmung bedeutet nicht, dass ich dir vertrauen kann
Sie bedeutet auch nicht, dass du auch morgen noch da sein wirst
Deine Umarmung bedeutet eben nicht, dass ich dir etwas bedeute
Ist sie deshalb nicht von Bedeutung oder ist sie einfach, was sie ist?
Eine Umarmung zweier Ertrinkender
Weisheit
Du drehst den Schlüssel mit zittriger Hand zweimal im Schloss
Ist dir bewusst, dass du vielleicht dein Haus das letzte Mal verschließt?
Gestützt auf deinen Stock machst du einen unsicheren Schritt nach dem anderen
Ist dir bewusst, dass du diesen Boden vielleicht das letzte Mal mit deinen Füßen berührst?
Auf halbem Weg, bleibst du stehen und dein Blick schweift über deinen Garten
Ist dir bewusst, dass dies vielleicht der letzte Blick auf deine geliebten Bäume und Blumen ist?
Ein Arm stützt dich, hilft dir behutsam in den Wagen, der darauf wartet, dich fortzubringen
Ist dir bewusst, dass das vielleicht der letzte Abschied von deinem Zuhause ist?
Du schreist nicht, du schlägst nicht um dich, du weinst nicht, bist ganz still und unendlich müde
Du bist beinahe hundert Jahre alt, und obwohl dein Körper schwach ist, ist dein Bewusstsein doch klar und wach wie das eines Kindes
Dir ist bewusst, dass die Zeit gekommen ist zu gehen und du hast längst um dich getrauert
Du weißt, dass alles zur exakt richtigen Zeit und am exakt richtigen Ort beginnt und endet
Du weißt auch, dass das Leben und der Tod für dich keine Ausnahme machen
Du weißt, was kommen wird
Du weißt und es schmerzt
Letzte Begegnungen
Letzte Begegnungen sind schön und schrecklich zugleich
Sie sind natürlich und einfach und doch unverständlich
Sie sind notwendig und der Gedanke an sie erfüllt uns
Mal mit Erleichterung, mal mit furchtbarer Angst
Je weniger wir um die letzte Begegnung wissen
Desto schlimmer trifft uns die unumstößliche Wahrheit
Im Nachhinein wie ein Schlag und mitten ins Herz
Die Erinnerung an sie lässt uns nie wieder los
Wir bewahren die letzten Worte, das letzte Lächeln,
Den letzten Kuss und die letzte Umarmung
Den letzten Blick auf einen geliebten Menschen
In unserer Seele wie einen kostbaren Schatz
Nachts
Jede Nacht suchen mich all die Männer heim
Die ich kannte und die mein Herz näher angingen
Sie bevölkern meine wirren, unruhigen Träume
Ziehen immer enger werdende Kreise um mich herum
Flüstern sanft und unsagbar zärtlich in mein Ohr
Halten meine sich sehnende Hand in der ihren
Küssen mit weichen Lippen meine Augenlider
Lassen meine Mundwinkel zittern, die Wimpern flattern
Kühlen meine heiße Stirn, trocknen ungeweinte Tränen
Hauchen mir ihren süßen Atem ins gelockte Haar
Streicheln meine sternenklare Einsamkeit fort
Umarmen mein schlummerndes rotes Herz
Jeden Morgen, wenn ich lächelnd erwache
Tasten meine schlaftrunkenen Finger
In den weißen zerknitterten Laken
Doch neben mir ist es stets leer und klamm
Da ist keine Menschenseele außer meiner
Nur die schreiende lichtdurchflutete Stille
Die immer auf die schönsten Träume folgt
Astrid Kohlmeier, 1983 in Graz (Österreich) geboren, studierte Germanistik an der Karl-Franzens-Universität Graz und der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Sie schreibt Lyrik, Prosa und Theatertexte (Per H. Lauke Verlag Hamburg) und erhielt 2012 das Österreichische Staatsstipendium für Literatur. Ihre Texte wurden in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht und ihre Theaterstücke wurden in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg aufgeführt. Astrid Kohlmeier lebt und arbeitet in Graz.
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